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Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Leben der Alice Pendelbury: Roman (German Edition)
Autoren: Marc Levy
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seiner Frau finanziell aus. Sam war zu einem Abend eingeladen, den sein Chef zugunsten des Waisenhauses von Westminster ausrichtete, und es war seine Aufgabe, die Geschenke zu verteilen.
    »Und du, Alice?«, fragte Anton.
    »Ich … ich bin auch eingeladen.«
    »Wo denn?«, hakte er nach.
    Carol versetzte ihm einen Tritt gegen das Schienbein. Sie zog ein Paket Kekse aus der Tasche und erklärte, sie habe einen Bärenhunger. Sie bot jedem einen an und warf Anton, der sich empört das Bein rieb, einen vernichtenden Blick zu.
    Der Zug erreichte die Victoria Station. Der beißende Rauch der Lokomotive hüllte den Bahnsteig ein. Der Mief der Straßen, der sie am Fuße der Treppe empfing, war nicht angenehmer. Ein dichter Dunst lastete auf dem Viertel, er hatte sich aus dem Kohlenstaub gebildet, der den ganzen Tag aus den Schornsteinen der Wohnhäuser aufstieg und jetzt das traurig gelbliche Licht der Wolframlaternen umgab.
    Die fünf Freunde warteten auf die Straßenbahn. Alice und Carol stiegen als Erste aus. Sie wohnten nur drei Straßen voneinander entfernt.
    »Übrigens«, sagte Carol, als sie sich vor Alices Haus verabschiedeten, »wenn du es dir anders überlegst und auf deine Einladung verzichten willst, kannst du gerne Weihnachten in St. Mawes verbringen. Meine Mutter träumt davon, dich kennenzulernen. Ich habe ihr in meinen Briefen viel von dir berichtet, und dein Beruf macht sie neugierig.«
    »Ach, weißt du, über meinen Beruf kann ich nicht viel erzählen«, meinte Alice und bedankte sich bei Carol.
    Sie umarmte ihre Freundin und lief ins Treppenhaus. Vor sich hörte sie die Schritte ihres Flurnachbarn, der auch gerade nach Hause gekommen war. Sie wartete, um ihm nicht zu begegnen, sie war nicht mehr zum Reden aufgelegt.
    In ihrer Wohnung war es fast so kalt wie auf der Straße. Alice behielt den Mantel und die Halbfingerhandschuhe an. Sie füllte den Wasserkessel und stellte ihn auf den Gaskocher. Dann nahm sie die Teedose von dem Holzregal, die allerdings nur noch drei verlorene Blättchen enthielt. Also öffnete sie eine kleine Schatulle, die sich auf ihrem Arbeitstisch befand und getrocknete Rosenblätter enthielt. Sie gab einige in die Teekanne, kochendes Wasser darauf und machte es sich auf ihrem Bett bequem, wo sie nach dem Buch vom Vorabend griff.
    Plötzlich wurde es stockfinster im Zimmer. Alice stand auf und spähte durch das Glasdach. Das ganze Viertel war in Dunkelheit getaucht. Stromausfälle waren häufig und dauerten oft bis zum frühen Morgen an. Alice suchte nach einer Kerze. Ein kleiner brauner Wachshaufen neben dem Waschbecken erinnerte sie daran, dass sie die letzte in der vorhergehenden Woche verbraucht hatte.
    Vergeblich versuchte sie, den kurzen Docht noch einmal anzuzünden – die Flamme flackerte, knisterte und erlosch.
    An diesem Abend wollte Alice schreiben, sie wollte die Düfte des Salzwassers, des alten Holzes der Karussells und der von der Dünung zerfressenen Geländer zu Papier bringen. Ohnehin fand sie im Dunkeln keinen Schlaf. Also tastete sie sich zögernd und mit einem Seufzer zur Tür und fand sich damit ab, ihren Flurnachbarn erneut um Hilfe bitten zu müssen.
    Daldry öffnete ihr mit einer Kerze in der Hand. Unter seinem dunkelblauen Morgenmantel aus Seide trug er eine baumwollene Schlafanzughose und einen Rollkragenpullover. Der Schein der Kerze verlieh seinem Gesicht einen eigenartigen Ausdruck.
    »Ich habe Sie schon erwartet, Miss Pendelbury.«
    »Sie haben mich erwartet?«, antwortete sie verblüfft.
    »Seit der Strom ausgefallen ist. Denn stellen Sie sich vor, normalerweise schlafe ich nicht im Morgenmantel. Hier ist das, worum Sie mich bitten wollten«, sagte er und zog eine Kerze aus der Tasche. »Deswegen sind Sie doch gekommen, nicht wahr?«
    »Es tut mir leid, Mister Daldry«, entgegnete sie und senkte den Kopf, »morgen denke ich wirklich daran, neue zu kaufen.«
    »Daran glaube ich nicht mehr, Miss Pendelbury.«
    »Wissen Sie, Sie können mich Alice nennen.«
    »Gute Nacht, Miss Alice.«
    Daldry schloss die Tür, und Alice kehrte in ihre Wohnung zurück. Doch kurz darauf klopfte es an der Tür. Als Alice öffnete, stand Daldry mit einer Schachtel Streichhölzer vor ihr.
    »Ich nehme an, auch die haben Sie nicht? Kerzen sind nützlicher, wenn man sie anzündet. Sehen Sie mich nicht so an, ich habe keine hellseherischen Fähigkeiten, aber letztes Mal hatten Sie auch keine Streichhölzer, und da ich jetzt wirklich schlafen gehen möchte, habe ich es
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