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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas
Autoren: Heinz Strunk
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Beinen vor dem mehrfach unbeschichteten Kochtopf stehen, sie hatte ihre liebe Not damit, die ausgelaugten Salzkartoffeln im Wasserbad warm zu halten. Die Geschichte mit dem eingeklemmten Finger würde sie mir nie abnehmen, denn sie war (aus guten Gründen) überzeugt davon, dass Lügner ihre Lügen immer mit hanebüchenen Geschichten tarnen.Wer nichts zu verbergen hat, dem genügen ein, zwei Sätze der Erklärung. Langsam hörte die Hand auf, schmerzhaft zu pochen, ich klemmte einen Zehn-Euro-Schein zwischen Untertasse und Becher und verdrückte mich.
     
    Auf dem Bahnsteig war es noch heißer als im Café. Als Kind hatte es mir nie heiß genug sein können. Jeden Morgen nach dem Aufstehen war ich ans Fenster gestürzt, hatte die Vorhänge aufgerissen und in die Sonne geblinzelt. Ja, du liebe Sonne, strahl du nur, so hell du kannst! Auf dem Weg zur Badeanstalt hatte ich ganz tief eingeatmet, um den Sommer in mich aufzunehmen und jedes Lungenbläschen mit heißem Sommerwind, dem einzigartigen Geruch von Kuh, Chlor, Speiseeis, flimmernder Hitze, Pollen, Sonnencreme, Bauernstube, nackter Haut, Insekten, Filterzigaretten und frisch abgeernteten Feldern vollzusaugen. Die Wärme, die Luft, die Gerüche, die Aussicht auf sechs Wochen Ferien und tausend andere Sachen waren in meinem Kopf explodiert und hatten ein unbeschreibliches Glücksgefühl ausgelöst. Der Sonnenschein hoch oben verdichtete sich und rieselte in Schauern zu mir herab, die Sonne brannte sich in meinem Gesicht fest, ich konnte spüren, wie meine Haare ausblichen, ich leckte mir über die salzigen Lippen und freute mich wie ein Tier, das leben darf. Es waren Momente voller Herrlichkeit, ein kostbares Gefühl, am Leben zu sein und sich von ihm verzehren zu lassen, wie es durch mich hindurchbrauste und mich dabei zerstörte. Ja, wirklich, damals verfügte ich über ein Enzym, das Hitze in Glück aufspaltete.
    Und nun stand ich schwitzend auf dem sich langsam füllenden Bahnsteig und machte den Mund auf und zu wie ein halbtoter Karpfen. Die Luft war heiß und unangenehm und erfüllte mich mit einer dumpfen Traurigkeit. Vielleicht führt der Kontakt mit der Sonne ab einem bestimmten Alter automatisch zum Tod. Daran muss man sich gewöhnen, wie man sich wahrscheinlich noch an ganz andere Dinge gewöhnen muss. Ich schaute auf die Anzeigetafel und ärgerte mich über die Drecksbahn. Sechs Minuten noch, sechs verschissene Minuten, wozu zahl ich eigentlich Abgaben? Ich erwog ernsthaft, dem Bund der Steuerzahler beizutreten. Mein Gesicht war vor Wut und Hitze rot wie eine Rübe, die Arme hingen wie Topflappen an mir herunter, und aus irgendwelchen Gründen musste ich an Kaffeesahne denken, die dick und gelblich in eine Tasse rinnt.
    Das hatte mit früher wirklich nichts mehr zu tun.
     
    Die Anlage, in der meine Großeltern seit bald fünfzig Jahren leben, wird von ihren Bewohnern liebevoll «Käfersiedlung» genannt, da sämtliche Straßen, Wege und Stiege nach netten und nützlichen Käfern benannt sind: Sandkäferstieg, Marienkäferweg, Maikäferring, Dingskäferstraße, Dingskäferkehre. Der Borkenkäfer ist kein nützlicher Käfer, sondern ein Schädling, deshalb ist auch keine Straße nach ihm benannt. (Den Maikäfer gibt’s eigentlich nur noch aus Schokolade.) Die Großeltern sind jung eingezogen und hier alt geworden.
Alle
sind jung eingezogen und hier alt geworden, alle, alle, alle. Die Siedlung mit dem putzigen Namen ist hoffnungslos vergreist, ein Spiegelder demographischen Entwicklung. Manchmal kommt sie mir vor wie eine von irren Kindern mit starrem Blick (in diesem Fall irren Alten mit starrem Blick) bevölkerte Kleinstadt, die wie in amerikanischen Horror- B-Movies von finsteren Mächten aus den Tiefen des Weltalls entsandt wurden, um als Vorposten die Invasion des Planeten Erde vorzubereiten.
    Sobald man die Hauptstraße verlässt und in den Marienkäferweg biegt, erlischt schlagartig alles Leben. Mucksmäuschenstill reiht sich Einfamilienhaus an Einfamilienhaus an Einfamilienhaus. Kein Kindergeschrei, keine Rasenmähergeräusche, noch nicht einmal Vogelgezwitscher. Vielleicht fallen Vögel tot vom Himmel, wenn sie die Greisenenklave überfliegen wollen. Vielleicht bilde ich mir das alles aber auch nur ein. Sicher ist jedenfalls: In der gesamten Siedlung gibt es keinen Menschen unter siebzig. Und Fantomas habe ich in Verdacht, dass er sich bereits die Option auf eine Doppelhaushälfte gesichert hat.
     
    An der Ecke Marienkäferweg/​Sandkäferstieg
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