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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas
Autoren: Heinz Strunk
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einen und noch einen, und noch einen, und dann setzte ich ihn matt. Die Revanche verlor er kläglich. Verzweifelt hatte er mich danach angeschaut: «Markus, was ist bloß los mit mir? Ich kann gar nicht mehr richtig denken!» Ich wurde verlegen und habe irgendwas wie «Wird schon wieder» gesagt, «Tagesform» oder «Vielleicht hast du was Schlechtes gegessen». Dabei wusste ich, dass es was Ernstes war. Im ersten Jahr hatte er seinen Verfall noch bewusst und schmerzhaft miterlebt, er war ganz verzweifeltund versuchte sich zu wehren, wusste aber nicht, wie. In der nächsten Phase wurde er rührselig, danach schrumpfte er schließlich zu dem Häuflein Elend, das er heute ist.
    Wenn er so ganz normal in seinem Sessel sitzt, merkt man nichts. Selbst mit über achtzig zieht er sich jeden Morgen einen Anzug an, eines der Dinge, die er noch selbständig tun kann. So etwas wie
Freizeitkleidung
hat es bei ihm nie gegeben, Opa im Jogginganzug, undenkbar! Im Bett trägt man einen Schlafanzug, am Strand eine Badehose, sonst Anzug. Opa verbringt fast den ganzen Tag im Sessel. Manchmal setzt sich Oma zu ihm, und sie unterhalten sich, das heißt, Oma erzählt, was sie Leckeres eingekauft hat oder dass es Herrn Sowieso schon wieder schlechter geht. Opas großes Thema ist der Krieg, wie viele alte Männer wird er von seiner militärischen Vergangenheit eingeholt. Sonst guckt er gern Tiersendungen. 1
    Das Wichtigste für Opa ist aber Essen, noch vor Tieren und sogar noch vor Krieg. Sein Sättigungsgefühl scheint sich zeitgleich mit dem Kurzzeitgedächtnis verabschiedet zu haben, er kann wirklich schaufeln wie ein Scheunendrescher. Gutes Wort, Scheunendrescher. Erstaunlich, was in den kleinen, schrumpeligen Körper alles reingeht. Mit entrücktem Gesichtsausdruck schiebt er sich die
Sachen
rein, bis nichts mehr da ist oder Oma abräumt. Wenn Oma oderich beim Essen trödeln, dauert es nicht lange, und seine Gabel beginnt zu wandern. In meinen Träumen sehe ich ihn auf dem Kamm einer pyroklastischen Welle, einer Welle aus kochendem Speisebrei, dem Paradies entgegenirrlichtern, ein Surfer mystique.
    Einerseits gönnte ich ihm das Vergnügen, andererseits sah ich mich gezwungen, die gleichen Maßstäbe anzulegen, die zeit seines/​meines Lebens auch für ihn/​mich gegolten hatten: «Eine Mahlzeit muss man sich verdienen.» Solange ich denken konnte, war Opa ein lebendes Verbotsschild gewesen. Im Grunde genommen war alles verboten, außer vielleicht Luftholen: Rauchen, Luftgewehr schießen, mit Freunden zelten, im Garten Fußball spielen, erst nach neunzehn Uhr heimkommen, Mofa fahren, Taschenbillard, lange Haare, kurze Hosen, verboten, verboten, verboten. Alle anderen ja, ich nein. Im ersten Stock, direkt neben dem Gäste-WC, befindet sich ein allein ihm, dem Haushaltungsvorstand, vorbehaltenes Privatrefugium, das sog. Herrenzimmer, welches ich, wenn überhaupt, nur unter seiner Aufsicht hatte betreten dürfen. Zentrum des Herrenzimmers ist ein riesiges schwarzes Ledersofa (nicht wie Sofas heutiger Schummelbauweise aus zehn Prozent Leder und neunzig Prozent Luft-Schaumstoff-Gemisch, sondern sechzig oder siebzig Prozent reines Leder. Massivleder) mit einer Tragfähigkeit von schätzungsweise zwei Tonnen. Und jetzt kommt’s: Ich (12   Jahre, irgendwas mit 50   Kilo) durfte mich nicht daraufsetzen. Begründung: Abnutzung.
    Aber da sich im Leben bekanntlich alles rächt (Payback Time), war ich auf der Suche nach einer angemessenen Bestrafungauf eine perfide Idee gekommen: ihm die Freude am Essen zu verleiden. Essen, essen, essen. Das war der richtige Ansatz, den Spaß an der elenden Völlerei würde ich ihm gründlich verderben! Da ich jedoch kein ausschließlich von primitiven Rachegelüsten getriebener Primat war, galt es, erst einmal eine Art theoretischen Überbau zu konstruieren: Omas ausschließlich aus gesättigten Fettsäuren bestehende Hausmannskost leistet einem noch rascheren Abbau Vorschub. Für Opas ohnehin geschwächten Organismus ist solches Essen
pures Gift
. Meine Mission war also, dafür zu sorgen, dass Opa wenigstens sonntags nicht noch tüddeliger wird. Ich war auf eine simple, aber sehr effiziente Methode gekommen: Auf dem Höhepunkt meines Rachefeldzuges trat ich ihm während der Mahlzeiten unter dem Tisch gegen das Schienbein. Immer wenn er vor lauter insektenhaftem Geschmecke und oralem Genuss das Bewusstsein zu verlieren drohte, holte ich ihn mit einem gezielten Schienbeintritt in die Wirklichkeit
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