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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas
Autoren: Heinz Strunk
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zurück.
    Zack.
    «AUA.»
    Ratlos blickte er vom Teller auf. Er konnte den Schmerz nicht lokalisieren. Oma schaute ihn an und dann mich und dann wieder ihn und konnte sich keinen Reim darauf machen. Was unter dem Tisch vor sich ging, lag außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Sie glaubte wahrscheinlich, dass Opa sich andauernd auf die Zunge biss oder im Backentaschenfleisch verhakte.
    «Ach, Walter, was ist denn jetzt schon wieder los mit dir?»
    «Aua!»
    «Wenn dir was wehtut, müssen wir zum Arzt gehen. Wo tut es denn weh?»
    «Ach, Friedel, ich weiß es doch auch nicht.»
    «Na, dann hat das keinen Zweck, dann räum ich mal ab.»
    Mein Plan war aufgegangen. Hilflos musste Opa mit anschauen, wie Oma die Schüsseln forttrug. Dabei hatte er doch noch so einen großen Appetit. Ich folgte ihr in die Küche.
    «Opa soll nicht immer so viel essen, da wird er ja noch verkalkter.»
    «Ach, Markus, ich weiß es ja, aber es ist doch die einzige Freude, die er noch hat.»
    «Aber es ist nicht gut für ihn. Man muss aktiv gegen die Verkalkung anarbeiten. Das Gehirn kann man trainieren wie einen Muskel.»
    «Ach, Markus, ob das noch was bringt?»
    «Natürlich bringt das was. Du kannst Opa doch nicht so einfach aufgeben!»
    «Tu ich ja auch nicht.»
    Ich lief zurück ins Wohnzimmer.
    «Opa, hörst du zu?»
    Opa wusste nicht, um was es ging, und guckte nur hilflos.
    «Wie heißt die Hauptstadt von Bayern?»
    «Was hast du gefragt, Markus?»
    «Bayern, wie die Hauptstadt von Bayern heißt!»
    Gehirnjogging.
    «Ich weiß es im Moment gar nicht.»
    «Opa, konzentrier dich mal. Da warst du als junger Mann auch schon mal!»
    «Wo?»
    «In Bayern. In der Hauptstadt des Bundeslandes Bayern.»
    Oma mischte sich ein.
    «Meinst du denn, dass das noch was bringt?»
    «Natürlich bringt das was. Du siehst doch, wie er nachdenkt!»
    Opa schaute schweigend auf die Tischdecke. Ich tat beleidigt.
    «Na, wenn ihr beide nicht wollt, dann komm ich auch nicht dagegen an. Dann lassen wir’s eben. Das ist dann aber nicht meine Schuld.»
    Meine Güte! Emotional verroht. Seelisch verwahrlost. Wer hier wohl der Nazi war, das Fleisch gewordene Herrenzimmer? Rückblickend unvorstellbar, dass ich mich wirklich so verhalten hatte, ich schäme mich heute noch dafür. Vielleicht war es aber auch notwendig gewesen, um meinen Frieden mit dem Alten schließen zu können. Man weiß es alles nicht so genau.
    Oma war bereits in der Küche mit dem Abwasch beschäftigt. Ich schaute ihn an. Einatmend. Wieder ausatmend. Ein staubiger Staubfänger, Nistplatz für Kartoffelkäfer. Es wirkte schon lange nichts Böses mehr aus ihm. Die Seele in ihrem Versteck, irgendwo im Schlick des harten Leibes. Er putzte sich mit seinem schmuddeligen Taschentuch die Nase und wirkte unglaublich eingeschüchtert und traurig über die unumkehrbare Vergeblichkeit. Es war, als ob jetzt, kurz vor der endgültigen Dämmerung, sein Wesen nocheinmal aufriss und den eigentlichen Charakter freigab. Verpuppt und nie ausgeschlüpft. Vielleicht war es das: Er war in Wahrheit ein ganz anderer. Alle Menschen sind am Anfang gut, und am Ende wieder und die Zeit dazwischen damit beschäftigt, ein Leben zu führen, das nichts mit ihnen zu tun hat.
     
    Ich ging in die Küche, um Großmutter beim Abwasch zu helfen. Wegen ihrer schlechten Augen kann sie den Schmutz und die Verkrustungen und Ränder und den ganzen Irrsinn nicht mehr richtig erkennen, und ich muss fast jeden Teller nacharbeiten. Der Haushalt alter Leute ist ein Fass ohne Boden, ein nasses Grab, eine Reise ohne Wiederkehr. Regelmäßig durchforste ich den Kühlschrank nach abgelaufenen Lebensmitteln. Faustregel: Die Hälfte kann man unbesehen wegschmeißen. Das Allerekligste ist Omas dunkelgrüne, noch aus der Nachkriegszeit stammende Kunstledereinkaufstasche. Mit den Lebensmitteln, die Oma darin im Laufe ihres Lebens vom Markt nach Hause und vom Krämer nach Hause und vom Fleischer, Bäcker, Metzger, Gemüsehändler, Obstwart, Erdbeerfeld nach Hause geschleppt hat, hätte man die Fettlücke des Hungerwinters 46/​47 schließen können. Im Bauch des spakigen Ungetüms sind bestimmt fünfhundert Becher Sahne ausgelaufen. Und in dieser Tasche transportierte sie nach wie vor frische Salatköpfe, Frischfleisch, Frischobst und frischen Fisch. Und wenn sie’s rausholte, war es nicht mehr frisch. Unvorstellbar. Aber an die Tasche kam ich nicht ran, denn Oma hing an dem säuerlichen Klumpen wie der Teufel an der armen Seele.Sie ahnte, was ich
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