Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas
Autoren: Heinz Strunk
Vom Netzwerk:
Durchgangsstation auf dem Weg zu meinen Großeltern, bei denen ich fast jeden Sonntag zu Mittag esse. Es würde unendlich viel Zeit und Mühe kosten, zu erklären, weshalb ein vierunddreißigjähriger Mann sich Woche für Woche von seiner fast achtzigjährigen Großmutter bekochen lässt. Deshalb lasse ich es lieber gleich.
    Esther war fertig und ging zum Bezahlen nach drinnen. Endlich war ich allein. Ich schaute auf die Uhr, zwanzig nach zwölf, spätestens in zehn Minuten musste ich los. Ich nahm den Salzstreuer in die linke Hand und den Pfefferstreuer in die rechte. Ich starrte auf die Tischplatte und überlegte, aus wie viel Holzstreben sie wohl zusammengesetzt war. Oder sagte man Bohlen? Oder ganz anders? Zonken? Ronken? Honken? Egal. Ich schätzte die Zahl der Wiedieauchheißen auf sechzehn. Da schätzen und glauben aber nicht wissen ist, beschloss ich, es zu
prüfen
. Wenn ich im Bereich plus minus drei blieb, würde ich mir etwas Schönes gönnen, wenn nicht, dann nicht. Ich zählte mit den Augen. Eins, zwei, drei, vier. Bei sieben kam ich raus. Auf meine Augen war auch kein Verlass mehr. Also nochmal von vorn, diesmal nahm ich den Mittelfinger zu Hilfe. Eselsbrücke. Die Eselsbrücke ist die Brücke des kleinen Mannes. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Die Zwischenräume betrugen im Durchschnitt ungefähr zwei Zentimeter, je nachdem, einige Zonken schienen weniger, andere deutlicher auseinanderzustehen. Ich vergewisserte mich, indem ich den Finger in die Ritzen steckte. Tatsächlich. Einige enger, andere weiter. Sieben, acht, ich murmelte leise mit.
    Bei neun blieb der Finger stecken. Ich zog ein paarmal, ohne Erfolg. Ruckel, ruckel, zieh, zieh. Ruckeln und ziehen brachte nichts. Also drehen, in Schraubenziehermanier. Brachte auch nichts, der Finger saß fest. Druckwellen liefen durch meinen Körper. Im Magen ein panisches Kitzeln. Ruhig, ruhig, jetzt bloß keine
Attacke
. Durch das Ruckeln und Ziehen und Drehen war der Scheißfinger im Nu angeschwollen. Das gesamte Universum war in einem einzigen Raumpunkt mit dem Volumen null zusammengedrängt, wie etwa in einer Kugel mit dem Radius null, dachte ich, und war irgendwie froh darüber, dass mir in dieser verfriemelten Situation etwas so Kompliziertes einfiel. Diophantische Gleichungen, Lie-Gruppen, Zufallsmatrizen. Wenn der Finger da reingekommen war, musste er auch wieder rauskommen, das war ja quasi ein Naturgesetz. Das Einzige, was ich tun konnte, war, den Finger ruhig zu halten und zu hoffen, dass er von alleine wieder abschwoll. Ich sah mich unauffällig um, aber die Gäste waren mit anderen Dingen beschäftigt. Ob ich der Einzige war, dem dieses Malheur jemals passiert war, oder kam das ständig vor? «Nicht die Finger zwischen die Ronken stecken. Lebensgefahr.»
    Ich hing jetzt bestimmt schon fünf Minuten fest und deckte die schlimme Hand mit der Zeitung ab, die Esther liegengelassen hatte. Heilung durch Nichtbeachtung. Hölfe, Hölfe, dachte ich, ich muss zu Oma und Opa zum Mittagessen, wenn ich zu spät komme, gibt’s Ausmecker. Genau das dachte ich, wörtlich. Mein Leben war doch schon so schwer genug. Der Finger tat weh, vielleicht war er durch die Ruckelei gebrochen? Oder verstaucht?Oder geprellt oder ausgerenkt? Oder eine oder mehrere Sehnen waren gerissen oder wenigstens angerissen? Da musste der Nottischler ran. Ob es so etwas wie einen Nottischler gab? Es gab schließlich auch einen Notarzt, einen Schlossnotdienst und eine Notapotheke. Zur allergrößten Not kann man die Feuerwehr rufen, die kommt immer. Schwitzschwitzruckelruckeloinkeroinker. Langsam wurde ich ernstlich panisch, ich ruckelte und drehte und zog und versuchte, mit der freien Hand die Bohlen auseinanderzudrücken. Nichts. Ich starrte auf den Finger und die Leute und die Zuckerdose, in der die Wespe noch immer ihren einsamen Kampf führte. Auf meiner Armbanduhr sah ich, dass es schon spät war, und mich beschlich so ein Gefühl, als ginge es nun nicht mehr um meinen Finger, sondern um etwas Grundsätzliches, es ging in Wahrheit um Leben und Tod. Es ging darum, dass von nun an ALLES diesem Augenblick gleichen würde.
    Mit einem Mal war der Finger frei. Ich befühlte ihn. Er tat weh und blutete etwas, aber gebrochen schien er nicht zu sein. Die Hand war krebsrot wie eine Metzgerhand. Wie hatte ich das jetzt gemacht? Ach, egal.
    Ich blieb so lange sitzen, bis meine Nerven sich halbwegs wieder beruhigt hatten. Währenddessen sah ich meine arme Großmutter mit geschwollenen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher