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Die Zukunft des Mars (German Edition)

Die Zukunft des Mars (German Edition)

Titel: Die Zukunft des Mars (German Edition)
Autoren: Georg Klein
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uns ahnt, dass ich die Mutter unserer kargen Sprache, jenen prächtigen Singsang, in dem die Heiligen Bücher verfasst sind, nicht bloß ablesen und verstehen, sondern auch in eigene Sätze gießen und Wort für Wort, Buchstabe an Buchstabe, Strich an Bogen niederschreiben kann. Der Umfang unserer Büchersammlung muss Euch kümmerlich, ja lachhaft erscheinen. Haltet mir zugute, dass es sechsundfünfzig sehr große und recht dicke Bücher sind. Ihre Blätter sind quadratisch, die Seitenlänge entspricht fast genau der Länge meines Unterarms, vom Ellenbogen bis an die Mittelfingerspitze. Jede der dreihundertfünfzig Seiten, die der absatzlose Text umfasst, ist nahezu randlos beschrieben, inden jüngsten Bänden so winzig, dass auch ein starkes Auge gutes Licht braucht, um die Zeilen zu entziffern. Nur das allerletzte Blatt und die Rückseite des letztbeschrifteten hat der schlaue Verfasser, vielleicht um mich, den Kommenden, den heute Nacht endlich bei seiner Bestimmung Angekommenen, in Versuchung zu führen, weiß und frei gelassen.
    Bei uns ist es Brauch, Blatt um Blatt andächtig langsam zu wenden. Keiner meiner Mitweltler würde wagen, an der heiligen Unlesbarkeit des Niedergeschriebenen zu zweifeln. Und so weit das Große Palaver zurückreicht, ziemte es sich für die Unsrigen, beim Besuch des Sonnenhauses die beiden von der Barmherzigen Schwester täglich frisch aufgeschlagenen Seiten still zu betrachten und schließlich behutsam, ohne die glänzenden Blätter zu berühren, die Stirn über die Naht zu neigen, der links die letzten, rechts die ersten Buchstaben gerade so nahe kommen, dass man ihre letzte Rundung, ihren ersten Aufstrich eben noch erkennen kann. Viele Male habe ich meine Mutter ihren Scheitel so auf die Scheitel der Heiligen Bücher senken sehen. Meine lieben Kollegen, die vier anderen Nothelfer, und unsere Vorgesetzte, die Barmherzige Schwester, tun es jeden Tag auf die gleiche Weise. Ich jedoch, der Verräter, muss inzwischen täglich ein Quäntchen mehr an ängstlicher Wachheit darauf verwenden, die Prozedur ohne auffällige Abweichung zu vollziehen. Dennoch sind mir gestern Abend noch in Anwesenheit der anderen erneut die Lippen über den offenen Seiten, über einem Absatz, den ich inzwischen auswendig kann, in ein verräterisches Zucken geraten.
    Ich schreibe dies im allerersten, noch trügerisch zögerlichen, in einem wie mit seinem Anheben spielenden Morgengrauen. Gleich vier langdochtige Steinschmalzkerzen habe ich an den oberen Buchrand gerückt. In der zurückliegenden Nacht, zu Beginn meiner neun Nächte dauernden Bereitschaft, habe ich kein Zipfelchen Schlaf zu fassen bekommen.Der nahende Beginn der Niederschrift trieb mich um und zwang mich immer aufs Neue, mich von meiner rechten, der Einschlafschulter, auf die unbequemere linke Schulter zu wälzen. Unser Altar, heilkräftiges Krankenlager und Ruhestätte des Nachtdienst leistenden Nothelfers, ist nur scheinbar hart. Oranger Warmstein besitzt eine eigentümliche Nachgiebigkeit. Von einem lebenden Körper belastet, beginnen sich seine Poren mit unmerklicher Langsamkeit zu dehnen. Nur aus der ebenso sacht zunehmenden Erwärmung kann der Liegende schließen, wie innig sich seine Unterlage bereits an ihn schmiegt. Wohlig warm, unfühlbar weich ruht der wachhabende Nothelfer unter seiner Decke, bis ihm das Pochen des Türklopfers oder das Brummen des neuen, von Twitwi gebauten Fernrufmelders befiehlt, in die Galoschen aus Mockmockgummi zu schlüpfen.
    Zuletzt malte ich mir aus, einfach um mich zur nötigen Nüchternheit zu ertüchtigen, was der Panik-Rat mit mir anstellen würde, falls man mir auf die Schliche käme. Smosmo, mein verehrter Lehrer, mein Vorleser in einem doppelten Sinne, hatte wohl bis in seine letzte Sonnenhausstunde Angst davor, dass unsere irdische, unsere erdvernarrte Lektüre auffliegen könnte. Smosmo war der Vorgänger der jetzigen Barmherzigen Schwester, und so weit der Schein des Großen Palavers reicht, ist er der einzige Mann gewesen, der dieses Amt je bekleidet hat. Smosmo fürchtete, der Panik-Rat würde sich, sobald man ihn ertappt hätte, wie aus einem bösen Nichts erleuchtet, jener Folterkünste entsinnen, die Ihr gewiss weiterhin praktiziert. Er rechnete damit, recht scheußlich gemartert zu werden. Wahrscheinlich hat er sich deswegen, wegen dieser lang gehegten und gepflegten Sorge auf eine noch immer anstößig einmalige Weise aus unserer Kolonie und aus seinem Leben davongemacht.
    Da ist sie: Endlich
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