Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die zerbrochene Welt 02 - Feueropfer

Die zerbrochene Welt 02 - Feueropfer

Titel: Die zerbrochene Welt 02 - Feueropfer
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
krallenbewehrt. Wie bei einer stattlichen Raubkatze. Er ging in die Hocke und schob die Grashalme auseinander. Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen.
    »Wen haben wir denn da?«
    Es war die frische Fährte eines Ippos. Auf Barnea nannte man sie Zweihörner – auf ihrer langen, dicht behaarten Hundeschnauze saßen nämlich zwei Hörner, vorn ein großes und dahinter ein kleineres. Die pferdeähnlichen Tiere besaßen ein kräftiges Paar Schwingen sowie die erstaunliche Fähigkeit, sich in eine eigene Atemblase zu hüllen. Darin konnten sie sich bis zu einer Stunde lang in der dünnen Luft des Ätherischen Meeres aufhalten.
    Vor allem aber waren sie ausdauernde Reittiere.
    Zeit ist Leben. Selten hatte Taramis die tiefe Wahrheit in den weisen Worten seines Lehrers mit solcher Klarheit erkannt. Deshalb wich er vom Weg ab und folgte der Fährte. Mit einem Zweihorn konnte er viele Stunden gewinnen. Falls er das Tier zu bändigen vermochte, würde es ihn wie der Wind in die Stadt tragen.
    Die Spur führte den Hang hinab und quer durch eine grasbewachsene Senke. Er bemerkte ein paar weidende Schafe, einen Hirten sah er jedoch nicht. Anschließend ging es wieder einen Hügel hinauf. Der Bodenbewuchs wurde karger. Bald lief Taramis über kahle Felsen, auf denen sich die Prankenabdrücke des Ippos verloren. Er sammelte seinen Willen. Zum Glück hatte er das Jagen in all den Jahren nie ganz aufgegeben und deshalb auch die Gabe des Fährtenglühens in sich stark erhalten.
    Die Abdrücke begannen zu glitzern: wie Goldstaub im Sonnenlicht. Das Tier musste sich in unmittelbarer Nähe befinden.
    Taramis setzte die Verfolgung fort.
    Der Himmel flammte in einem Farbenrausch von Feuerrot bis Purpur auf, als er das Zweihorn endlich unter dem ausladenden Astwerk einer Linde entdeckte. Er duckte sich ins Gras, um es nicht zu verschrecken. Es war ein prachtvoller Hengst mit seidigem, schwarzem Fell, das wie das Gefieder eines Raben im Abendlicht schimmerte. Das Geschlecht des Ippos verrieten die großen, spitzen Hörner auf der langen Hundeschnauze – das vordere mutete wie ein gebogener Säbel an, das zweite dahinter wie ein Dolch. Der muskulöse Körper hätte auch einem feurigen Rappen alle Ehre gemacht, sofern man dem Ross ein Paar majestätischer Schwingen zubilligte. Eine zottige Mähne säumte seinen kräftigen Hals. Die Beine waren vom Fußgelenk abwärts gelb-schwarz getigert. Der Schwanz schließlich glich dem einer großen Katze, am Ende wies er eine Quaste auf.
    Nicht nur aus dem Fehlen jeglichen Zaumzeugs schloss Taramis, dass es sich um ein wildes Ippo handelte. Es hatte einen Hirsch erbeutet, was bei gezähmten Tieren eher selten war. Wachsam spähte es in die Umgebung, riss mit seinem Wolfsgebiss hastig ein Stück aus dem Kadaver und hob sogleich wieder den Kopf. Zweihörner waren Allesfresser. Sie verschmähten weder pflanzliche noch tierische Kost. Manchmal jagten sie ihre Beute, manchmal begnügten sie sich auch mit Aas. Und wenn die Nahrung auf einer Scholle knapp wurde, dann schwangen sie sich sogar in den Weltenozean auf und ernteten Plankton oder schlugen kleinere Schwalltiere.
    Den Hengst einzufangen war nicht ungefährlich, von der Herausforderung ihn zuzureiten einmal ganz abgesehen. Taramis wünschte, er wäre ein Ganese. Die Bewohner von Gan besaßen ein angeborenes Gespür für die Natur. Niemand konnte so einfühlsam mit anderen Kreaturen umgehen wie sie. Er würde sich auf die zeridianischen Tugenden verlassen müssen: auf die Instinkte des Jägers.
    Um sich Bewegungsfreiheit zu verschaffen, warf er sich den Stab über die Schulter – das Futteral hatte einen schmalen Trageriemen. Danach pirschte er sich gegen den Wind an den geflügelten Schatten heran. Als er nur mehr einen Steinwurf von dem Tier entfernt war, formte er mit den Händen einen Resonanzraum vor dem Mund und stieß einen trötenden Laut aus, den Brunftruf eines Ippoweibchens.
    Der Hengst reckte seinen langen Hals nach oben. Die spitzen Ohren bebten vor Erregung und die Nase schnüffelte nach der Witterung des Weibchens.
    Taramis sammelte seinen Willen und erschuf mit der Kraft des Geistes das Trugbild einer rassigen, rostroten Stute. Schon als Kind hatte er die Gabe der Gaukelei an sich entdeckt und damit manchen Schabernack getrieben. Inzwischen war er sechsunddreißig Jahre alt und ein Meister der Illusionen.
    Der Hengst schien unschlüssig, ob er lieber seine Mahlzeit fortsetzen oder das Weibchen besteigen solle. Um ihn an Ort und Stelle
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher