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Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)

Titel: Die Zeit der Himmelsfeuer (German Edition)
Autoren: René Menez
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sie Maramir, die dicht hinter ihr stand, besorgt fragen.
    Abfällig musterte Kar den fremdartigen Jäger. Sie fand, daß ein verletztes Tier mehr Zuwendung verdiente als dieses häßliche Spitzgesicht. Dennoch antwortete sie ruhig und aufrichtig: „Ich glaube, er ist zu schwach!“
    Als sie daraufhin Maramirs bekümmerten Ausdruck sah, fuhr Kar hoch und wandt sich ihr erbost zu.
    „Was willst du noch?“
    Betrübt senkte Maramir ihren Kopf.
    „Für die Ahnen! Ich sollte dich schlagen! Die Seelen der Toten warten auf uns, und du willst Zeit damit vergeuden, einem Spitzgesicht zu helfen!“
    „Die Toten! Ja, Kar, denk an Mutter Weißhaar, deinen Sohn und an all die anderen! - Wir haben dem Spitzgesicht viel zu verdanken. Wir sind frei!“, entgegnete Maramir.
    Für einen Moment ballte Kar ihre Hände zu Fäusten, entschlossen, ihre jüngere Schwester mit Schlägen und harten Worten zurechtzuweisen. Aber dann zögerte sie. Ihre Wut erlosch plötzlich, wie Feuer, das mit Wasser in Berührung gekommen war. - Insgeheim war ihr bewußt, daß Maramir recht hatte.
    „Bitte, Kar! Er braucht Hilfe ...“
    „Gut!“, lenkte Kar ein. „Heute bleiben wir. Aber morgen, Leikika, werden wir aufbrechen, um in das Land unserer Ahnen zurückzukehren!“
    Maramir nickte stumm.
    Noch einmal sah sich Kar nach den Wölfen um. Inzwischen waren die Ahnen verschwunden, ihre Spuren verloren sich zwischen den schneebedeckten Sträuchern und Bäumen. Kar verspürte ein nagendes Unbehagen. Sie mißtraute diesem Rudel. Sie wünschte sich, nicht daran zweifeln zu müssen, daß weder sie noch Maramir etwas von den Ahnen zu befürchten hatten. - Aber die Begegnung mit den Wölfen hatte nichts von der uralten, geistigen Verbundenheit der Lebenden mit den in Wolfskörpern wohnenden Seelen der Verstorbenen erkennen lassen. Rasch verdrängte sie ihre argwöhnischen Gedanken und schaute prüfend in den Himmel. Noch war es neblig, doch das verschleierte Orange der aufgehenden Sonne versprach einen sonnigen, milden Tag.
    Maramir und Kar machten sich daran, Zweige und Äste zu sammeln. Unter Zuhilfenahme von Fellen und Schnee bauten sie um den Stamm des Baumes einen zur Sonne hin offenen, zeltartigen Unterschlupf. Währenddessen kümmerte sich Leinocka erstaunlicherweise um den Verletzten. Sie wusch seine Wunde mit frischem Urin und gab ihm etwas rohes Fleisch zu essen. - Kar nahm es schweigend hin und kämpfte gegen den aufsteigenden Groll, den sie gegen Leinocka verspürte. Aber als die Schwestern mit den letzten Bündeln Holz für ein Feuer zurückkehrten und Leinocka schlafend im Unterschlupf vorfanden, dicht neben dem Spitzgesicht, so daß ihr Kopf dabei auf seiner Schulter lag, stürzte Kar erbost durch die Öffnung des niedrigen Zeltes. Fragend starrte das Spitzgesicht sie an und hob schützend die Hand, die Kar ihm sogleich beiseite schlug. Aufgebracht packte sie Leinocka am Schopf und riß sie von ihm weg. Schläge, die Kar mit der flachen Hand ausführte, prasselten auf sie nieder.
    „Laß sie los!“, kreischte Maramir, stürzte dazwischen und griff nach den Armen ihrer Schwester.
    „Sie fürchtet dich wie einen wütenden Bären!“
    „Ja, sie fürchtet mich! Sie sollte das Spitzgesicht fürchten – aber sie fürchtet mich!“, stieß Kar hervor. „Hast auch du schon vergessen, was fremde Männer dir angetan haben?“
    „Aber das Spitzgesicht ist nicht wie die anderen!“, warf Maramir in ihrer Verzweiflung ein. „Die Ahnen haben zu mir gesprochen!“
    Augenblicklich verschwand der Zorn aus Kars Gesicht und sie ließ Leinocka los. Ungläubig musterte sie ihre jüngere Schwester.
    „Die Ahnen haben zu dir gesprochen? Noch nie haben sie das getan!“
    „Die Ahnen haben schon oft zu mir gesprochen. Ich weiß es! Ich höre nicht ihre Stimmen, sie sind in meinen Gedanken!“
    „Leikika, das sind die Gedanken eines Kindes; verirrte Gedanken, weil du die Anderswelt fürchtest!“
    „Mag sein, Kar, aber in einem Traum habe ich die Stimme von Mutter Weißhaar gehört. Sie hat zu mir gesprochen“, log Maramir.
    Prüfend musterte Kar den Gesichtsausdruck ihrer jüngeren Schwester. Maramir hielt dem Blick stand. Ihre Haltung war gerade. Sie zeigte Entschlossenheit. Allmählich verspürte Kar eine brennende Eifersucht. Wieso sprachen die Ahnen nicht mit ihr? Knurrend wie ein zorniger Wolf ergriff sie einen Speer und stapfte davon ... Jetzt bereute Maramir ihre Lüge. Kar schien so aufgebracht zu sein, daß sie nicht mehr wußte, was sie tat.
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