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Die Zeit: auf Gegenkurs

Die Zeit: auf Gegenkurs

Titel: Die Zeit: auf Gegenkurs
Autoren: Philip K. Dick
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»Immer noch?«
    »Ja«, nickte er.
    »Ich dachte, Liebe würde alles überwinden«, sagte Lotta.
    »Ich glaube, das stimmt nicht.« Sie ging im Zimmer herum und machte sich dann auf den Weg in die Küche. Und schrie auf.
    Einen Moment später war er bei ihr; er griff nach dem Schürhaken – zum Glück befand er sich in Reichweite des Kamins – und stieß sie zurück, den Schürhaken erhoben.
    Klein, runzlig und alt stand der Anarch Peak an der gegenüberliegenden Küchenwand und hielt sein schmuddeliges Baumwollgewand zusammen. Trauer schien ihn einzuhüllen; die Trauer hatte ihn kleiner gemacht, aber nicht besiegt; mühsam hob er grüßend die rechte Hand.
    Sie haben ihn umgebracht, dachte Sebastian von Kummer überwältigt. Ich weiß es; deshalb sagt er auch nichts.
    »Siehst du ihn auch?« flüsterte Lotta.
    »Ja«, nickte Sebastian und senkte den Schürhaken. Dann hatte es nicht am LSD gelegen; seine Vision, auf dem Dach von Ann Fishers Haus, war echt gewesen. »Können Sie sprechen?« fragte er den Anarchen. »Ich wünschte, Sie würden etwas sagen.«
    Endlich sagte der Anarch mit einer Stimme, die so trocken wie ein abgestorbenes Blatt klang: »Ray Roberts hat einen Jünger der Macht losgeschickt, und er ist auf dem Weg hierher. Dieser Mann gilt als der beste Killer der Uditen.«
    Stille trat ein, und dann fing Lotta – wie immer – an zu weinen.
    »Was können wir tun, Eure Heiligkeit?« fragte Sebastian hilflos.
    »Die drei Jünger, die vorhin bei Ihnen waren«, erwiderte der Anarch, »haben Sie mit einem Sender präpariert, Mr. Hermes, der sie ständig über Ihren Aufenthaltsort informiert. Ganz gleich, wo Sie sich befinden, der Sender wird es ihnen verraten.«
    Sebastian betastete seine Jacke, seine Ärmel, suchte den Sender.
    »Bei dem Sender«, erklärte der Anarch, »handelt es sich um einen elektronisch aktiven, nicht abwaschbaren Farbstoff. Sie können ihn nicht entfernen, weil er auf Ihrer Haut aufgetragen ist.«
    »Wir wollten zum Mars gehen«, stieß Lotta hervor.
    »Das werden Sie auch«, versicherte der Anarch. »Ich bleibe hier, bis der Jünger der Macht eintrifft. Ich hoffe, ich schaffe es.« Der Anarch wandte sich an Sebastian. »Ich bin schon sehr schwach. Es ist schwer … Ich weiß es nicht.« Sein Gesicht verriet plötzliche, schreckliche Qual.
    »Sie haben Sie umgebracht«, sagte Sebastian.
    »Man hat mir ein giftiges Mittel injiziert, das in meinem geschwächten Zustand zum Tode führen wird. Aber mir bleiben noch ein paar Minuten … Es wirkt sehr langsam.«
    Diese Bastarde, dachte Sebastian.
    »Ich liege auf einem Bett«, sagte der Anarch. »In einem dunklen kleinen Raum. In einem Flügel der Bibliothek; ich weiß nicht, in welchem. Niemand ist mehr bei mir. Sie haben mir das Gift injiziert und sind gegangen.«
    »Sie wollten es nicht miterleben«, sagte Sebastian.
    »Ich bin so müde«, flüsterte der Anarch. »In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nicht so müde gefühlt. Als ich in meinem Sarg erwacht bin und mich nicht bewegen konnte, hatte ich Angst, aber das ist schlimmer. Aber in ein paar Minuten wird es vorbei sein.«
    »In Anbetracht Ihres Zustands«, sagte Sebastian, »ist es sehr gütig von Ihnen, uns helfen zu wollen.«
    »Sie haben mich wiederbelebt«, sage der Anarch kaum hörbar. »Ich werde Ihnen das nie vergessen. Und wir haben miteinander gesprochen; Sie und ich, Ihre Leute und ich. Ich erinnere mich daran; es hat mir sehr gefallen. Selbst Ihr Verkäufer; auch an ihn erinnere ich mich.«
    »Können wir irgend etwas für Sie tun?« fragte Sebastian.
    »Sprechen Sie mit mir«, bat der Anarch. »Ich will nicht einschlafen. ›Es ist das Leben, das Leben, das Leben, das stirbt.‹« Für einen Moment sagte er nichts; er schien nachzudenken. Und dann sagte er: »Geweb’ für Geweb’ er zu Seele heranwächst / wie Blatt für Blatt die Ros’ zur Rose wächst / Geweb’ für Geweb’ zerfällt, und er geht dahin / einer Seifenblase gleich, die im Nu verging.«
    »Glauben Sie das immer noch?« fragte Sebastian.
    Er erhielt keine Antwort. Der Anarch, bereits verblassend, zitterte und zog sein Gewand enger um sich.
    »Er ist tot«, sagte Lotta mit bebender Stimme.
    Noch nicht, dachte Sebastian. Nur noch zwei Minuten. Eine Minute.
    Die verschwommenen Reste des Anarchen lösten sich auf. Und verschwanden.
    »Ja, sie haben ihn umgebracht«, sagte Sebastian. Er ist tot, dachte er. Und diesmal wird er nicht mehr zurückkehren; es ist aus. Vorbei.
    Lotta blickte zu ihm auf
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