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Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)

Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)

Titel: Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)
Autoren: Rudolf Taschner
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und bei Zwei zählte er nicht. Zwei gleichartige Dinge erfasste er sofort als ein Paar. Er brauchte sie nicht, gleichsam mit dem Finger auf die beiden zeigend, mit den Worten „eins“, „zwei“ abzuzählen. Vielleicht war Drei die erste und anfangs auch die einzige Zahl: Der Urmensch sieht ein Paar von Dingen, und noch ein weiteres Ding tritt hinzu. Drei steht daher für „zwei plus eins“. Es muss den am Beginn des Denkens stehenden Menschen große Mühe gekostet haben, dies geistig zu fassen. Drei war für ihn schon sehr viel; nicht umsonst sind die französischen Wörter très, das „sehr“ bedeutet, und trois, das „drei“ bedeutet, verwandt. Kommt aber noch ein weiteres, viertes Ding hinzu, versagt dem Steinzeitmenschen die Vorstellungskraft. Jetzt sieht er einfach nur „viele“. So gesehen war damals Drei nicht nur die erste, sondern zugleich die größte Zahl. Vier als Zahl gab es noch nicht. Der Urmensch zählt: „ein Paar und eins dazu: drei“. Später zählt er wie in einem Gesang: „Eins, zwei, drei“. Es ist der gleiche Rhythmus wie bei den Worten „Auf die Plätze, fertig, los“, mit dem sportliche Wettkämpfe in Gang gesetzt werden. Mit dem Spruch „Eins, zwei, drei“ waren neben der älteren Drei die Zahlen Eins und Zwei geboren.
    Doch spätestensals die Menschen der Jungsteinzeit Haustiere hielten, waren sie gezwungen, über drei hinaus zu zählen. Wer nicht zählen konnte, bemerkte nicht, dass seine Schafherde immer kleiner wurde, wie sehr sich die Schafe auch vermehrten. Denn das Diebsgesindel in den umliegenden Wäldern raubte ihm hemmungslos die Tiere, bis schließlich nur mehr drei übrig blieben. Das aber bedeutete bereits den wirtschaftlichen Ruin. Darum galt schon damals der Leitspruch: Wer überleben will, muss zählen können.
    Wenigstens sollte der Hirte die Zahl der Tiere mit den eigenen Fingerkerben, den Zwischenräumen zwischen den Fingern, vergleichen können. Eine Herde bis zu acht Tieren durfte man einem solchen Hirten anvertrauen. Eine neue Entdeckung war, dass man sogar über acht hinaus zählen kann. Die neue Zahl nach acht heißt darum auch neun; die Wörter „neun“ und „neu“ sind sprachverwandt. Im Lateinischen genauso: „novem“ und „novum“. Und das französische „neuf“ bedeutet „neun“ und „neu“ zugleich. Ab jetzt zählte der Urmensch nicht die Kerben zwischen den Fingern, sondern die Fingerspitzen: Zehn wurde zur größten Zahl.
    Doch danach gab es kein Halten mehr. Noch mehr Gliedmaßen als die Finger allein wurden zum Zählen verwendet. Es ist gut denkbar, dass in manchen Stämmen Finger- und Zehenspitzen fürs Zählen herangezogen wurden, so dass man zu zwanzig gelangt. In der französischen Sprache finden sich Fragmente dieses Brauchs: „quatre-vingt“, das Wort für achtzig, bedeutet wortgetreu übersetzt „vier-zwanzig“, meint also vier Bündel zu je zwanzig Stück. Für neunundneunzig lautet das französische Wort: quatre-vingt-dix-neuf, wortgetreu übersetzt: „vier-zwanzig-zehn-neun“.
    Die Wohlhabenden zählten sogar weit über hundert hinaus:
    Welcher Menschist unter euch,
    der hundert Schafe hat und, so er der eines verliert,
    der nicht lassedie neunundneunzig in der Wüste
    und hingehe nach dem verlorenen, bis dass er’s finde?
    Und wenn er’s gefunden hat,
    so legt er’s auf seine Achseln mit Freuden.
    Und wenn er heimkommt,
    ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen:
    Freuet euch mitmir;
    denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.
    Jesus muss beimErzählen dieser Geschichte einen wunderbar zahlenkundigen Hirten vor Augen gehabt haben. Denn es ist bei einer Herde gar nicht so leicht zu erkennen, dass nicht hundert, sondern nur neunundneunzig Schafe vorhanden sind. Aber natürlich kam es Jesus nicht auf die genaue Zahl der Schafe an. Die Geschichte verlöre ihren Reiz, wenn er davon gesprochen hätte, dass einer 42 Schafe besitzt und plötzlich eines verliert. Seine Zuhörer wären durch die Zahl 42 – warum gerade diese und keine andere? – von der eigentlichen Botschaft der Geschichte abgelenkt worden, die ihnen der unglaublich begnadete Erfinder von Gleichnissen vermitteln wollte. Hundert steht einfach für „sehr viele“.
    Doch mehr als hundertmal muss man seinem Nächsten vergeben:
    Da trat Petrus zu ihm und sprach:
    Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben?
    Ist’s genug siebenmal?
    Jesus sprach zuihm:
    Ich sage dir: Nicht siebenmal, sondern
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