Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)

Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)

Titel: Die Zahl, die aus der Kälte kam: Wenn Mathematik zum Abenteuer wird (German Edition)
Autoren: Rudolf Taschner
Vom Netzwerk:
Hilbert in seinem Programm vorschwebte.
    Die jungen Mathematiker im Café Capoulade waren allesamt ausgefuchste Könner des mathematischen Spiels. Sie hatten es in ihrem Studium an derÉcole Normale Supérieure, einer der Eliteschulen Frankreichs, ausgiebig gelernt. Einst trat Raoul Husson, ein Kommilitone, in Verkleidung eines bärtigen alten Professors im Seminarraum auf und dozierte, wobei er eine falsche Behauptung auf die andere folgen ließ. Die Aufgabe der Hörer war es, die Fehler in den Behauptungen des verkleideten Raoul Husson aufzudecken. Alle fanden diesen Auftritt sehr witzig, und am besten gefiel ihnen die letzte bizarre Behauptung des falschen Professors, die er das „Theorem von Bourbaki“ nannte. Jeden seiner falschen Sätze verband Raoul Husson nämlich mit einem bedeutend klingenden Namen eines fiktiven Mathematikers; in Wahrheit waren es aber Namen von Generälen der französischen Armee. Das „Theorem von Bourbaki“ benannte er zum Beispiel nach dem im deutsch-französischen Krieg von 1870 bis 1871 kämpfenden General Charles Sauter Bourbaki. In Erinnerung an ihre damaligen Studentenstreiche vereinbarten die nun jungen Professoren des Café Capoulade, sich hinter dem Pseudonym „Bourbaki“ zu verbergen: Der erfundene Mathematiker Nicolas Bourbaki sollte ihr Buch als Autor zieren. Später behaupteten sie, dass dieser Nicolas Bourbaki Mitglied der Akademie der Wissenschaften von Nancago sei. Doch den Ort Nancago gibt es genauso wenig, wie es den Mathematiker Bourbaki gibt. Es ist eine Verballhornung gebildet aus Nancy und Chicago, zwei Universitätsstädten, an denen einige Angehörige der sich hinter Bourbaki verbergenden Gruppe lehrten.
    Anfangs glaubte Bourbaki – wir lassen uns auf die Marotte der Gruppe ein und tun so, als ob er wirklich als Mathematiker existierte –, dass sein Lehrbuch in drei Jahren fertig geschrieben sei. Aber das Unternehmen erwies sich als weitaus aufwendiger, als es sich auf den ersten Blick ausnahm. Erst 1939 erblickten die ersten Bände seines monumentalen Werks, das den Namen „Éléments de Mathématique“, also „Elemente der Mathematik“ trug, das Licht der Welt. Und über Jahrzehnte hinweg wurden die Éléments de Mathématique um Folgebände erweitert. Vollendet wurde das Werk nie. Es verendete regelrecht, weil kaum mehr ein Mitglied der Gruppe den Überblick bewahren konnte. „Bourbaki ist ein Dinosaurier, dessen Kopf zu weit von seinem Schwanz entfernt ist“, behauptete zynisch Pierre Cartier, der von 1955 bis 1983 dem Bourbaki-Kreis angehörte. Dass Nicolas Bourbaki am 11. November 1968 friedlich in Nancago entschlafen sei und am 23. November 1968 um 15 Uhr im „Friedhof der Zufallsvariablen“ seine Beisetzung stattfinden werde, wurde in einer – niemand weiß, von wem verfassten – Parte mit hämisch gespielter Trauer verkündet.
    Das Buchprojekt „Éléments de Mathématique“ des Nicolas Bourbaki erinnert an das erste Mathematiklehrbuch der Geschichte, an die „Elemente“ des griechischen Mathematikers Euklid. Wobei es, nebenbei bemerkt, einige Wissenschaftshistoriker gibt, die behaupten, auch Euklid habe es in Wahrheit nie gegeben. Auch hinter diesem Namen verberge sich ein Kollektiv von Gelehrten aus dem antiken Alexandria.
    33 Ganz knapp nach dem Ersten Weltkrieg, noch bevor Weyl seinen engagierten und gegen die Position Hilberts gerichteten Artikel verfasst hatte, wurde eine einzigartige Gelegenheit verpasst, welche der Mathematik des 20. Jahrhunderts einen völlig anderen Verlauf verleihen hätte können. Denn trotz ihrer verschiedenen Auffassungen vom Unendlichen schätzte Hilbert seinen holländischen Kollegen Brouwer wegen anderer seiner mathematischen Schriften als tiefen Denker und eminenten Forscher. Hätten sie, bevor sie sich in ihre Positionen mit unnachgiebiger Härte verbohrten, einander getroffen und aussprechen können, wäre nicht nur Weyl, sondern möglicherweise auch sein ehemaliger Lehrer Hilbert von Brouwers Gedanken überzeugt worden. Die Chance ergab sich, als Brouwer während der Sommerferien kurz nach 1918 Weyl im Engadin besuchte und ihn für seine Sicht des Unendlichen begeisterte. Nur ein paar Tage früher war auch Hilbert in die Schweiz gereist; Brouwer schrieb eine Postkarte an Hilbert, in der er zutiefst bedauerte, ihn nicht persönlich getroffen zu haben …
    34 Als der Streit zwischen Brouwer und Hilbert über fachliche Probleme hinaus sogar persönlich wurde, schlugen beide voneinander
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher