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Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)

Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)

Titel: Die Wurzeln des Himmels: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Autoren: Tullio Avoledo
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unten im Brunnen versteckt und höre sie kommen.
    Lautlos drücke ich mich an die kalte, feuchte Wand und versuche, unsichtbar zu werden. Ich sehe nicht nach oben, wo sich im Zwielicht die runde Öffnung des Brunnens abzeichnet. Der Wind treibt Schneeregen vor sich her, formt daraus einen grauen Vorhang – das weiß ich, ohne ihn zu sehen. Ich weiß auch, dass die Wolken über der toten Stadt ein anderes Grau zeigen.
    Ich dränge mich an die Wand, so wie ich als Kind unter die Bettdecke gekrochen bin, aus Furcht vor Ungeheuern und Monstern.
    Jetzt gibt es sie wirklich, die Ungeheuer und Monster, und sie sind hinter mir her.
    Ich kann nicht mehr hoffen, dass mein Vater sie verjagt, indem er das Licht einschaltet. Er ist nicht mehr da, ebenso wenig meine Mutter, in deren Umarmung ich damals flüchten konnte.
    Pulsierender Schmerz kommt von der Wunde dicht unter der Schulter, aber der Schmerz scheint jetzt fern zu sein. Es fühlt sich an, als sei mein Arm fünf Meter lang. Die Kugel hat ihn durchschlagen und ein Loch darin hinterlassen. Ich habe einen Lappen hineingestopft, um die starke Blutung zu stoppen.
    Meine Kraft hat mich verlassen.
    So oft ich mir diesen Moment auch vorgestellt habe, ich bin nicht auf ihn vorbereitet. In einem Brunnen zu sterben, in einer Stadt voller lebendig gewordener Albträume …
    Tausend zusammenhanglose Erinnerungen gehen mir durch den Kopf, wie die Splitter eines zerbrochenen Spiegels.
    Der verrückte Gottschall und seine Kirche auf Rädern.
    Der Wald aus alten Baumstämmen.
    So erschien mir die Stadt des Lichts, als ich sie zum ersten Mal sah. Als ich zum ersten Mal an ihren trockenen Kanälen entlangwanderte. Die alten Pfahlbauten, auf denen die Gebäude ruhen, erschienen mir wie ein Wald aus Wurzeln.
    Wurzeln des Himmels.
    Und dann das Skelett des Meeresungeheuers. Die Masken. Der Tanz der toten Seelen beim Palazzo …
    Alessia.
    Die perfekte Illusion ihrer sanften Finger auf meiner fiebrigen Haut.
    Das Geräusch ihres Lachens, wie das Wasser einer Kaskade.
    Die Schritte sind nur noch wenige Meter vom Brunnen entfernt. Gleich beugen sich die Verfolger über den Rand und blicken zu mir herab.
    Sie werden das Licht ihrer Taschenlampen nach unten richten und mich sehen.
    Ich schließe die Augen.
    Ich erinnere mich daran, wie alles begann. Nur einige Wochen sind vergangen – mir erscheinen sie wie Jahrhunderte.
    In jener kurzen Zeit bin ich um tausend Jahre gealtert …
    Es begann im dreiundvierzigsten Jahr meines Lebens in Rom, weit von hier entfernt.
    Es begann in der Calixtus-Katakombe. Ein alter Ort des Todes, ins Leben zurückgeholt.
    Beziehungsweise in das, was wir heute Leben nennen.
    Ein scharfer Geruch von Staub lag in der Luft des Zimmers, in dem sie mich warten ließen …

1
    Von Menschen und Ratten
    Ein scharfer Geruch von Staub liegt in der Luft des Zimmers, in dem sie mich warten lassen …
    Es riecht nach Staub und Kerzenfett. Früher einmal bestanden die Kerzen, deren Licht einst auf diese eintausendsiebenhundert Jahre alten Fresken fiel, aus reinem Bienenwachs. Heute stellen wir sie aus dem her, was sich auftreiben lässt: aus Paraffin, Stearin und nicht nur tierischem Fett. In unserer neuen Welt werfen wir nichts weg, weder Körper noch Ideen.
    Wir entdecken die Vergangenheit neu. Die früheren Techniken und Methoden. Wie zum Beispiel die Herstellung von Kerzen und Armbrüsten, oder wie man Ratten das Fell abzieht und es gerbt.
    Es ist wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Andererseits, auch die Welt vor dem Tag des Leids machte nichts anderes, als die Erfindungen der Vergangenheit neu zu entdecken. Schon damals waren wir Zwerge auf den Schultern von Riesen, Parasiten der Vergangenheit.
    Das Echo eines g regorianischen Chorals reicht manchmal bis hierher, klar und rein selbst am Ende seines Weges durch Kirchenkeller und Kurven.
    Die steinerne Sitzbank ist unbequem. Die beiden Schweizergardisten rechts und links der Tür wirken müde. Sie wahren Haltung, aber in ihren Blicken zeigt sich deutliche Langeweile. Man nennt sie noch immer Schweizergardisten, obwohl sie mit den in operettenhafte Uniformen gekleideten Soldaten von einst überhaupt keine Ähnlichkeit haben. Sie tragen keine Hellebarden mehr, sondern eine praktische automatische Pistole im aufgeknöpften Halfter. Vorbei die Zeit der auffallenden bunten Uniformen, die einer – sicher falschen – Legende nach Michelangelo entworfen haben soll. Die einzigen Reste der Medici-Farben Blau, Rot und Gelb sind drei
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