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Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe

Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe

Titel: Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe
Autoren: Selma Lagerloef
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Morgen war Nils Holgersson vor Tagesgrauen auf und wanderte an den Strand hinunter. Ehe es richtig hell war, stand er eine kleine Strecke östlich von dem Fischerdorf Smyge am Ufer. Er war ganz allein; vor dem Weggehen war er im Gänsestall bei dem Gänserich Martin gewesen und hatte versucht, ihn zu wecken. Aber der große Weiße hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Ohne ein Wort zu sagen, steckte er den Kopf wieder unter den Flügel und schlief weiter.
    Der Tag versprach wunderschön zu werden, fast so schön wie jener Frühlingstag, wo die Wildgänse nach Schonen gekommen waren. Still und unbeweglich breitete sich das Meer aus; kein Lüftchen rührte sich, und der Junge dachte daran, welch eine schöne Reise übers Meer die Wildgänse bekommen würden!
    Er selbst ging noch immer wie im Traum umher. Bald fühlte er sich als Wichtelmännchen, bald als Mensch. Wenn er ein Steinmäuerchen am Wege sah, wagte er kaum weiterzugehen, ehe er sich überzeugt hatte, daß kein Raubtier dahinter auf der Lauer lag. Und gleich darauf lachte er über sich selbst und freute sich, daß er nun groß und stark war und sich vor nichts mehr zu fürchten brauchte.
    Als er am Ufer angekommen war, stellte er sich in seiner ganzen Größe weit draußen auf den Strand, damit ihn die Wildgänse gut sehen könnten.
    Heute war großer Reisetag! Unaufhörlich tönten die Lockrufe durch dieLuft. Der Junge lächelte vor sich hin: er war ja der einzige, der verstand, was die Vögel einander zuriefen.
    Jetzt kamen auch Wildgänse dahergeflogen, eine große Schar hinter der andern. „Wenn das nur nicht meine Gänse sind, die da davonfliegen, ohne mir Lebewohl gesagt zu haben!“ dachte er. Er hätte ihnen doch gar zu gerne erzählt, wie alles zugegangen war, und sich ihnen nun auch als Mensch gezeigt.
    Jetzt kam eine Schar, die flog schneller und schrie lauter als alle andern, und etwas in seinem Herzen sagte Nils Holgersson, daß es seine Schar sei; aber er war seiner Sache doch nicht so gewiß, wie er es am vorhergehenden Tage gewesen wäre.
    Die Schar flog jetzt langsamer und schwebte über dem Strand hin und her. Da wußte der Junge, daß seine Ahnung ihn nicht betrogen hatte. Er konnte nur nicht begreifen, warum sich die Wildgänse nicht neben ihm niederließen. Da, wo er stand, mußten sie ihn sehen, es war nicht anders möglich.
    Er versuchte, einen Lockton auszustoßen, der sie zu ihm herrufen würde. Aber was war denn das? Seine Zunge wollte nicht; er konnte den rechten Ton nicht herausbringen.
    Jetzt hörte er Akka in der Luft droben rufen; aber er verstand nicht, was sie sagte. „Was ist denn das? Haben die Wildgänse ihre Sprache verändert?“ dachte er.
    Er winkte ihnen mit seiner Mütze, lief am Strande hin und her und rief: „Hier bin ich! Wo bist du?“
    Aber es schien, als erschrecke er die Gänse. Sie flogen auf und aufs Meer hinaus. Da begriff der Junge endlich: sie wußten nicht, daß er wieder ein Mensch war, und erkannten ihn nicht wieder.
    Und er konnte sie nicht zu sich rufen, weil ein Mensch die Sprache der Vögel nicht sprechen kann. Er konnte sie nicht allein nicht sprechen, nein, er konnte sie auch nicht verstehen.
    Obgleich Nils Holgersson über seine Befreiung von der Verzauberung hochbeglückt war, tat es ihm doch recht bitter weh, daß er nun von seinen guten Kameraden ganz getrennt sein sollte. Er legte sich in den Sand und vergrub das Gesicht in den Händen. Was hatte es für einen Wert, den Gänsen nachzuschauen?
    Aber gleich darauf hörte er Flügelrauschen. Der alten Mutter Akka war es schwer gefallen, von dem Däumling wegzureisen, und so hatte sie noch einmal umgedreht. Und jetzt, wo der Junge still dasaß, wagte sie sich näher an ihn heran. Und da war es ihr plötzlich, als seien ihre Augen aufgetan, sie erkannte den Dasitzenden und ließ sich am Ufer neben ihm nieder.
    Der Junge stieß einen Freudenschrei aus und umschlang die alte Akka mit beiden Armen. Die andern Wildgänse rieben ihre Schnäbel an ihm auf und ab und drängten sich um ihn zusammen. Sie schnatterten und plauderten und wünschten ihm auf alle mögliche Weise Glück; und er sprach auch mitihnen und dankte ihnen für die herrliche Reise, die er in ihrer Gesellschaft gemacht hatte. Aber plötzlich wurden die Wildgänse merkwürdig still, als wenn sie sagen wollten: „Ach, er ist ja ein Mensch! Er versteht uns nicht, und wir verstehen ihn nicht.“
    Da stand der Junge auf und trat dicht an Akka heran. Er liebkoste und streichelte sie.
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