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Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe

Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe

Titel: Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgaensen - Vollstaendige Ausgabe
Autoren: Selma Lagerloef
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habe!“
    „Nein, wart ein wenig, Mutter, und sieh erst hierher!“ sagte Holger Nilsson. „Ich hab entdeckt, was dem Pferde gefehlt hat.“
    „Ich glaube, das Glück hat sich gewendet und kehrt wieder bei uns ein!“ rief die Frau. „Denk dir nur, der große Gänserich, der im Frühjahr verschwunden ist, muß mit den Wildgänsen davongeflogen sein! Er ist zurückgekommen und hat sieben Wildgänse bei sich. Sie gingen in den Gänsestall hinein, und ich habe sie alle miteinander darin eingeschlossen.“
    „Das ist doch merkwürdig,“ sagte Holger Nilsson. „Aber weißt du, was das beste an der Sache ist, Mutter? Daß wir nun nicht mehr zu glauben brauchen, unser Junge habe die Gans mitgenommen, als er von daheim fortgelaufen ist.“
    „Ja, da hast du recht, Vater. Aber ich glaube, wir müssen die Gänse heute abend noch schlachten. In ein paar Tagen ist der Martinstag, und wenn wir die Gänse dazu noch in die Stadt bringen wollen, müssen wir uns beeilen.“
    „Es kommt mir geradezu wie ein Unrecht vor, wenn wir den Gänserichschlachten, da er doch mit so einer großen Gesellschaft zu uns zurückgekehrt ist,“ sagte Holger Nilsson.
    „Wenn die Zeiten besser wären, würde ich ihn gern am Leben lassen, aber wenn wir doch vom Hofe fort müssen, können wir die Gänse ja nicht behalten,“ entgegnete die Frau.
    „Ja, das ist allerdings wahr.“
    „Komm und hilf mir, sie ins Haus hineinzutragen!“ sagte die Mutter.
    Sie verließen miteinander den Hof, und einen Augenblick später sah der Junge seinen Vater mit Daunenfein unter dem einen Arm und dem Gänserich unter dem andern in Gesellschaft der Mutter über den Hof kommen. Der Gänserich schrie: „Däumling, komm und hilf mir!“ wie immer, wenn ihm eine Gefahr drohte, obgleich er ja nicht wissen konnte, daß der Junge in der Nähe war.
    Nils Holgersson hörte ihn wohl schreien, blieb aber trotzdem vor dem Stalle stehen, nicht weil er wußte, daß es für ihn selbst gut wäre, wenn der Gänserich geschlachtet würde – daran dachte er in diesem Augenblick nicht einmal –, sondern weil er sich, wenn er die Gans retten wollte, vor seinen Eltern sehen lassen mußte, und dazu konnte er sich nicht entschließen. „Sie haben es ohnedies schon schwer genug,“ dachte er. „Sollte ich wirklich dazu verurteilt sein, ihnen auch noch diesen Kummer zu bereiten?“
    Aber als sich die Tür hinter dem Gänserich geschlossen hatte, kam Leben in den Jungen. Schnell wie der Blitz lief er über den Hofplatz, sprang auf die eichene Schwelle vor der Haustür und von da in den Flur hinein. Aus alter Gewohnheit zog er die Holzschuhe aus und näherte sich der Stubentür. Aber er empfand noch immer den größten Widerwillen, sich so vor seinen Eltern sehen zu lassen, und hatte nicht die Kraft, die Hand aufzuheben und anzuklopfen.
    „Aber es handelt sich doch um den Gänserich Martin,“ dachte er. „Seit du zum letzten Male hier gestanden hast, ist er immer dein bester Freund gewesen.“
    In einem Nu durchlebte Nils Holgersson in Gedanken alles wieder, was er und der Gänserich auf gefrorenen Seen und stürmischen Meeren und zwischen gefährlichen Raubtieren miteinander durchgemacht hatten. Sein Herz floß über vor Dankbarkeit und Liebe; er überwand sich und klopfte an die Tür.
    „Ist jemand da?“ fragte der Vater, indem er die Tür öffnete.
    „Mutter, du darfst der Gans nichts tun!“ rief der Junge; und zugleich stießen der Gänserich Martin und Daunenfein einen Freudenschrei aus; sie lagen gebunden auf einer Bank, und an dem Schreien hörte man, daß sie noch am Leben waren.
    Wer aber auch einen Freudenschrei ausstieß, das war die Mutter. „Nein, wie groß und schön du geworden bist!“ rief sie.
    Der Junge war nicht eingetreten, sondern auf der Schwelle stehen geblieben, wie jemand, der seines Empfangs nicht ganz sicher ist.

    „Gott sei Lob und Dank, daß ich dich wieder habe!“ rief die Mutter. „Komm herein! Komm herein!“
    „Ja, Gott sei Lob und Dank!“ sagte auch der Vater; mehr konnte er nicht herausbringen.
    Aber der Junge zögerte noch immer auf der Schwelle. Wie war es nur möglich, daß sich die Eltern über das Wiedersehen freuten, wo er doch so aussah! Aber da kam die Mutter herbei, schlang ihre Arme um ihn und zog ihn in die Stube herein; und nun merkte der Junge, wie die Sache sich verhielt.
    „Vater! Mutter! Ich bin groß! Ich bin wieder ein Mensch!“ rief er.
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55
Der Abschied von den Wildgänsen
    Mittwoch, 9. November
    Am nächsten
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