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Die Wundärztin

Die Wundärztin

Titel: Die Wundärztin
Autoren: Heidi Rehn
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einem Jahr fiel es ihr nicht leicht, sich vorzustellen, für immer in diesem Haus mit dem dreiseitig umbauten Hof zu bleiben.
    Dabei lag es keinesfalls an den räumlichen Gegebenheiten, dass sie noch immer fremdelte. Das Anwesen war großzügig angelegt: Im Erdgeschoss befanden sich außer Erics Kaufmannskontor noch die Lagerräume und im Anbau zum Hof eine Küche nebst Hühnerstall und Schweinekoben. In den Geschossen darüber lagen zwei großzügige Wohnetagen für Eric, Carlotta und sie sowie die Gesindekammern. Dank guter Geschäfte direkt nach Ausrufung des Friedens von Münster vor fast drei Jahren hatte Eric genug Kapital angehäuft, um ihnen in der reichen Messestadt einen solch weitläufigen Komplex einzurichten. Selbst für eine ansprechende Möblierung und eine üppige Ausstattung mit Geschirr und Wäsche, soviel das Herz begehrte, hatte es gereicht.
    Wieder lächelte Magdalena versonnen. Anders als Eric war sie ihr Leben lang freiwillig von Ort zu Ort gezogen. Es hatte sie nie gestört, nirgendwo und gleichzeitig überall zu Hause zu sein, nicht einmal, wenn sie den Winter über in einem Zelt oder Planwagen bei Schnee und Eis ausharren mussten. Das Einzige, was für sie zählte, war, ihre Lieben um sich zu wissen. Seit sie Eric und Carlotta wiedergefunden hatte, war das erreicht.
    Inzwischen aber wohnte sie nicht nur in einem Haus, das ihr oder vielmehr ihrem seit wenigen Monaten rechtmäßig angetrauten Ehemann gehörte. Seinetwegen hatte sie sogar den Traum, weiter als Wundärztin zu arbeiten und ein unabhängiges Leben zu führen, aufgegeben. Es war ihr sehr schwergefallen, das ihrer Mutter Babette, die weiterhin dem Kölner Haushalt des verwitweten Fassbinderonkels vorstand, mitzuteilen. Natürlich hatte Babette ihren Hohn nicht verhehlen können und ihr über den schreibkundigen Onkel gleich einen Brief zurückgeschickt: »Jetzt bist du doch noch eine sesshafte Bürgersfrau geworden.«
    Wehmütig rief sich Magdalena gelegentlich die unbeschwerten Sommerwochen des Jahres 1644 ins Gedächtnis. Bis zum heutigen Tag zählte sie die zu den glücklichsten ihres Lebens. Damals war sie noch sicher gewesen, sich nie an der Seite eines Ehemanns fest an einem Ort niederzulassen. Selbst wenn sie nicht, wie die Mutter es damals gewünscht hatte, ihren dumpfen Fassbindervetter hatte heiraten müssen, war es wohl immer noch das Dasein als bürgerliche Ehefrau, woran sie sich am meisten gewöhnen musste. Deshalb fühlte sie sich in ihrem eigenen Haus immer noch wie ein Gast.
    Das Päckchen! Seufzend besann sie sich auf ihr eigentliches Vorhaben und ging zurück zum Tisch. Die Holzdielen im Obergeschoss knarrten. Carlotta tollte mal wieder in der guten Stube herum. Sie sollte hinaufgehen und die Kleine zur Ordnung rufen. Für ein wohlerzogenes Mädchen gebärdete sie sich viel zu wild. Schmunzelnd trat Magdalena in die Diele. Wenn sie ehrlich war, gefiel ihr das. Carlotta sollte tun und lassen, was sie wollte, vor allem aber lernen, den eigenen Kopf zu gebrauchen. Darin war sich Magdalena mit Eric zum Glück einig. Lauschend verharrte sie im Treppenhaus und lauschte dem lustigen Plappern und Singen ihrer Tochter. Offenbar war sie ganz in ihr Spiel vertieft. Das schrille Lachen eines zweiten Kindes übertönte bald Carlottas Stimme. Matthes war also da, der Sohn der Nachbarn. Magdalena beschloss, den beiden die Freude zu lassen, ungestört etwas Unerlaubtes zu tun. Erwachsene durften nicht alles wissen. Sie kehrte ins Kontor zurück.
    Entschlossen schnitt sie das Band um das rätselhafte Päckchen auf. Sobald sie es aus dem Wachspapier ausgewickelt hatte, stieg ihr ein penetranter Geruch nach Lederfett in die Nase. Noch bevor sie das braune Etui ganz freigelegt hatte, wusste sie, was es war: Meister Johanns schweinslederne Rolle mit dem Chirurgenbesteck! Ihre Finger begannen zu zittern. Kaum gelang es ihr, das gute Stück vollständig freizulegen. Sie tastete rückwärts nach dem Stuhl und sank darauf nieder. Tränen verschleierten ihren Blick. So lange hatte sie nicht mehr an Meister Johann gedacht! Dabei hatte er über Jahre mehr für sie getan als ihre Eltern, insbesondere ihre Mutter, und ihr auch viel mehr bedeutet. Wie hatte sie ihn nur vergessen können?
    Dass sie nun das Lederetui mit dem kostbaren Chirurgenbesteck in Händen hielt, verhieß nichts Gutes. Sie öffnete es und strich über die blankpolierten Instrumente. Die Schere, die Zange, der kleine Löffel, die Nadeln. Wie oft hatte sie die Meister Johann
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