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Die Wundärztin

Die Wundärztin

Titel: Die Wundärztin
Autoren: Heidi Rehn
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war, als drückte ihr jemand die Luft ab. Wie konnte Elsbeth das nur behaupten! Im ersten Moment wusste sie nicht, ob sie wütend oder traurig darüber sein sollte, wusste nicht einmal, ob sie sich mehr darüber aufregte, dass die Cousine ihr Carlotta genommen hatte, oder darüber, dass sie gedacht hatte, niemand hätte sie gemocht. Dennoch: Sie hatte sie geliebt, trotz alledem. Heftig kämpfte es in ihr. Sie ballte die Fäuste.
    »Englund ist auch tot.« Es platzte aus ihr heraus. Eigentlich hatte sie es Eric schonend beibringen wollen. Die Art, wie er sich vorhin nach seinem Vetter erkundigt hatte, hatte deutlich gemacht, wie sehr ihm an ihm lag. Warum sie das trotzdem so harsch verkündete, konnte sie sich selbst nicht erklären. Wahrscheinlich geschah es Elsbeths wegen, dabei wusste sie doch seit Rupprechts Brief von ihrem Tod. Im nächsten Moment schon tat es ihr leid. Sie legte den Arm um Erics Schultern und schmiegte sich an ihn. Durch die Berührung spannten sich seine Muskeln an. Das unter seinem Hemd zu spüren tat gut. Plötzlich stieg ihr der wohlbekannte Geruch seiner Haut in die Nase. Schnuppernd rückte sie noch ein wenig näher. Er legte den Arm um sie und zog sie zu sich.
    »Dass Roswitha gleich beim Abzug aus Amöneburg gestorben ist, weißt du, oder?« Er sagte es mehr zu sich selbst als zu ihr. »Seume hat nicht einmal angehalten, als sie unter die Räder seines Wagens geriet. Leider habe ich bis heute nicht herausgefunden, was aus Meister Johann geworden ist. Keiner konnte mir was erzählen, ganz gleich, wen ich auch gefragt habe. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen.«
    »Wollen wir es hoffen.«
    Sie schwiegen. Jeder gab sich den eigenen Gedanken hin. Auf einmal war sie unsäglich müde. Vorsichtig hob sie den Kopf und betrachtete Eric. Wie gern würde sie ihn fragen, was er in den letzten Jahren noch getan hatte, außer zu warten und zu suchen. Auch wenn sie einiges bereits von Ambrosius und Berta wusste, hätte sie es gern einmal von ihm selbst erfahren. Er schien jedoch nicht ansprechbar. Sein Blick war in weite Fernen gerichtet. Er merkte nicht einmal, dass sie ihn ansah.
    Der weiche Haarflaum in seinem Nacken war ihr vertraut, ebenso die vielen kleinen Fältchen um Augen und Mund. Zwar wich das rotblonde Haar am Stirnansatz bereits zurück, dennoch schien es ihr in diesem Moment, als wären sie eben erst vom Heuboden in der Freiburger Gerberau hinuntergestiegen. Waren seither tatsächlich schon mehr als vier Jahre vergangen? Waren all die furchtbaren Dinge tatsächlich geschehen? In diesem Moment wollte sie nichts mehr davon hören. Erst einmal war es genug.
    Sie musste ihn küssen und an sich reißen, ihn lieben – genau wie damals. Gierig sog sie die Tränen von seinen Wangen, schmeckte das Salzige darin und strich ihm das lichter gewordene Haar aus dem Gesicht. Ihre Hände ruhten an seinen Schläfen und zwangen ihn, sie anzusehen. Willig ließ er es geschehen, erwiderte bald sogar die Zärtlichkeiten.
    »Lass uns für eine Weile vergessen, was passiert ist«, sagte sie. »Lass uns einfach die Nacht miteinander genießen. Wer weiß, wie viel Zeit uns dieses Mal bleibt.«
    4
    Der Abendhimmel wölbte sich über ihnen. Ein steter Wind strich von der Ebene herauf, pustete die letzten Blätter von den Bäumen. Dabei brachte er eine erste Ahnung vom anstehenden Wetterwechsel mit. Der Dezember würde endlich den Winter bringen. Dann bliebe auch Eric auf Bertas Gehöft und setzte seine Geschäfte erst nach der Schneeschmelze in den Bergen wieder fort. Magdalena schlang das Wolltuch enger um sich, während sie sich auf der Bank vor dem Bauernhaus rekelte. Der kleine Lockenkopf auf ihrem Schoß reckte sein Gesichtchen nach oben. Auf die dreckverschmierten Wangen fiel das letzte Tageslicht. Carlotta strahlte von einem Ohr zum anderen.
    Eine Weile verlor sich Magdalenas Blick in den himmelblauen Augen ihres Kindes. Die zunehmende Dämmerung verschluckte den Glanz, der darin schimmerte. Es fiel Magdalena schwer zu begreifen, dass zwei Jahre vergangen waren, seit sie die Kleine zuletzt so gehalten hatte. Vorsichtig legte sie den Arm um das Kind. Seit Carlotta am Morgen gemerkt hatte, wie vertraut Eric und sie miteinander umgingen und dass auch Berta ihr nicht misstrauisch begegnete, hatte sie ihre Scheu überwunden.
    Versonnen betrachtete Magdalena sie. Die Kleine entsprach ganz und gar nicht mehr dem Bild, das sie von ihr in Erinnerung hatte. Sie erschrak, weil es ihr bewusstmachte, wie schnell sich
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