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Die Wuensche meiner Schwestern

Die Wuensche meiner Schwestern

Titel: Die Wuensche meiner Schwestern
Autoren: Lisa van Allen
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ihn eingearbeitet hatte: Sie malte sich aus, wie er all die Dinge entdeckte, die seine Kindheit bereichern würden – Bücher und Käfer und Pilze und Fangspiele mit Freunden. Sie stellte sich vor, wie er ein Abschlusszeugnis überreicht und seinen Traumjob angeboten bekam. Sie dachte an eine Partnerin, mit der er sich perfekt ergänzen würde, und wünschte ihm all die Nerven, die er für eigene Kinder benötigen würde, aber auch all die Freude und Erwartungen, die diese bedeuteten. Sie strickte all ihre guten Wünsche in den Pullover für ihn hinein, und als schließlich der Zeitpunkt zum Abketten der Maschen gekommen war, betete sie, er möge eines fernen Tages mit Frieden und Leichtigkeit im Himmel empfangen werden, während seine Enkel neben ihm wachten, und sein Glück möge dank allem, was er erlebt, gesehen und getan hatte, vollkommen sein.
    Der Pullover war wunderschön geworden – winzige, mit Nadeln der Stärke zwei gestrickte Maschen, ein Ausschnitt, der sich an der Schulter mit einem Knopf aus Birkenholz öffnen ließ, und kaum sichtbare Nähte. Doch als Bitty bei ihrer Baby-Shower-Party die braune Papierverpackung aufgerissen und vor aller Augen den Pullover ausgepackt hatte, vor den wohlhabenden Verwandten ihres Mannes und den schicken Müttern aus der Nachbarschaft, hatte sie ein langes Gesicht gemacht.
    »Oh, danke«, hatte sie gesagt. Und war dann zum nächsten Geschenk übergegangen, als hätte Aubrey ihr ein vulgäres Nachthemdchen, ein Abonnement für eine Diätzeitschrift oder etwas ähnlich Peinliches übergeben.
    An diesem Tag war Aubrey gezwungen gewesen einzusehen, was sie zuvor immer bestritten hatte: Bitty hatte die Gewohnheiten ihrer Kindheit, die Traditionen der Strickerei, ein für alle Mal abgelegt. Bald wurden aus den Besuchen ihrer Schwester Telefonate, aus den Telefonaten Grußkarten, aus den Karten E-Mails, die immer seltener kamen, bis sich irgendwann im Laufe der Jahre ein Nebel über all die verstrichene Zeit legte, der sie voreinander verbarg und isolierte: Die Frau, die im Eingang der Strickerei stand und Hallo? Ist jemand zu Hause? rief, war nicht mehr dieselbe Schwester, die Aubrey einst das Haar geflochten, ihr die Decke um die Beine festgesteckt, damit sie sich wie eine Meerjungfrau fühlen konnte, und ihr Erdnussbuttermilch zubereitet hatte, wenn sie sich den Ellbogen aufgeschrammt hatte und weinte.
    Aubrey blieb – ein wenig theatralisch, so wie Mariah es vielleicht auch getan hätte – mit der Hand auf dem Treppenpfosten stehen und blickte ihre Schwester im Hausflur an. »Du bist hier.«
    »Ja«, erwiderte Bitty. Wasser tropfte ihr aus dem Haar in den Mantelkragen. Sie hatte ihre Taschen abgestellt – so viele, viele Taschen –, während die Kinder ihre fest umklammert hielten. »Ich habe die Nachricht gehört, die du mir auf der Mailbox hinterlassen hast. Und dann bin ich so schnell gekommen, wie ich konnte.« Bitty lächelte schwach. »Wir wollten ein Hotel nehmen, aber in der Stadt ist gerade irgendeine Versammlung.«
    »Der Verband der Nachkommen holländischer Farmer«, erklärte Aubrey. »Was ist mit deinem Mann? Wird er …?«
    »Wir haben Craig eine Nachricht hinterlassen. Wir wollten ihn nicht wecken.« Bitty räusperte sich und wandte sich dann an ihre Kinder: »Wie dem auch sei, ihr beiden, seid nicht so unhöflich. Sagt eurer Tante Aubrey guten Tag.«
    »Eurer Tante Aubrey guten Tag«, sagte Carson.
    Aubrey musste lachen.
    Nessa murmelte ihre Begrüßung.
    »Schön dich kennenzu… wieder zusehen«, gab Aubrey zurück.
    Mit der Hand umschloss sie fest die Kugel auf dem Treppenpfosten. Sie war froh, ihre Nichte und ihren Neffen zu sehen, es half etwas gegen die Leere in ihrem Herzen. Doch noch ein weiteres Gefühl machte sich in ihrem Inneren bemerkbar – eines, das sie nicht genau benennen konnte. Als sie beide vor sich stehen sah – Nessa mit ihrer roten Löwenmähne und Carson, der noch jungenhaft war, aber attraktiv zu werden versprach –, liebte sie sie sogleich aus vollem Herzen. Obwohl sie sie doch kaum kannte.
    »Dein Schal ist toll«, sagte sie zu Nessa.
    Nessa griff nach ihrem nachlässig um den Hals geworfenen Strickschal. Er hatte die Farbe von geröstetem Hafer, gesprenkelt mit jagdgrünen und braunen Tupfen. Darauf wanden sich Zöpfe wie Schlangen umeinander, an die sich Dutzende kleine Bommel schmiegten. Nessa wickelte ihn sich vom Hals. »Danke.«
    »Hast du den gemacht?«
    »Mom hat ihn mir geschenkt.«
    »Darf ich?« Aubrey griff
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