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Die Wuensche meiner Schwestern

Die Wuensche meiner Schwestern

Titel: Die Wuensche meiner Schwestern
Autoren: Lisa van Allen
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nach dem Schal. Doch sobald ihre Fingerspitzen ihn berührten, zog sie die Hand zurück, da sich ihr Verdacht bestätigt hatte. »Acryl.« Sie warf ihrer Schwester einen kurzen Blick zu. »Du lässt sie Acryl tragen?«
    Bitty zuckte die Achseln. »Er war im Angebot.«
    »Ich werde ihr einen neuen stricken, während ihr hier seid. Oder noch besser – ich werde ihr zeigen, wie sie sich selbst einen stricken kann.«
    »Das kannst du mir beibringen?« Nessas Augen begannen zu leuchten. »Echt? Du könntest so was selber machen ?«
    Für einen Augenblick spürte Aubrey, wie sich der Raum verwandelte, selbst die Luft lag nun leichter auf ihrer Haut. Als Aubrey jünger war, so jung, dass sie Worte wie Erwartung und Entfremdung noch nicht kannte, hatte ihre Tante Mariah sie auf einen kleinen Schemel gesetzt, sich dann hinter ihr platziert und den Hocker so weit zu sich herangezogen, bis Aubreys Oberkörper fast zwischen ihren Knien steckte. Dann hatte sie ihrer Nichte die Arme um die Schultern gelegt und ihr die Hände vors Gesicht gehalten – die Perspektive der Strickerin. Bis zum heutigen Tag hatte sich Aubrey niemals sicherer oder mehr geliebt gefühlt als zwischen den Armen ihrer Tante. Um Mariahs linke Hand war ein fester Wollfaden gewickelt gewesen, ihr Zeigefinger war ausgestreckt, und die Wolle hing von seiner Spitze wie von einer Angelrute. Aubrey hatte den Atem angehalten.
    »Und jetzt«, hatte Mariah gesagt, »schau hin.«
    Aubrey zog Mariahs flauschigen rosa Bademantel fester zu. Draußen wehte der Wind stärker und schneller, ließ die Fenster wie lose Zähne klappern. Nessa wippte auf den Zehenspitzen, während sie auf eine Antwort wartete.
    Aubrey lächelte. »Sicher, Nessa. Ich würde dir liebend gern das Stricken beibringen. Es wäre mir eine Ehre.«
    Doch Bitty legte einen Arm um ihre Tochter und zog sie an sich. »Tut mir leid. Keine Chance. Wir sind nur zur Beerdigung hier. Danach fahren wir gleich wieder.«
    * * *
    Die drei Van-Ripper-Schwestern mochten nicht immer einer Meinung gewesen sein, und als sie jünger waren, hörten die Nachbarn sie oft über die seltsamsten Dinge streiten – über ihre Sammlung zahmer Würmer, wer an der Reihe war, Mariah die Fußnägel zu lackieren, wie man einen Frosch richtig hielt. Doch es gab eine Sache, die siealle sehr früh ohne jede Diskussion gelernt hatten, gemeinsam zu tun: Stricken.
    Während der Strickstunde, die meist nach dem Abendessen und den Hausaufgaben direkt vor dem Schlafengehen stattfand, versammelten sich Aubrey, ihre Schwestern und ihre Tante Mariah in dem Raum, der einmal der Salon der Strickerei gewesen war, in dem man Gäste empfangen hatte. Im Laden war Wolle nichts als Wolle. Doch wenn Mariah strickte, verwandelte sie sich in Pullover, Schals, Mützen, erste Küsse, gute Schulnoten, neugeborene Babys und alle möglichen anderen, sehnlich herbeigewünschten Dinge.
    Mariah, die stets buntgemusterte Kleider in den fürchterlichsten Farben trug und der das graue Haar wie Seetang ums Gesicht hing, zündete dann eine Kerze an und sprach ein Gebet. Danach begannen sie zu stricken, und jede Schwester war allein mit dem Geräusch ihres eigenen Atems, mit den Maschen, die wie Kieselsteine in einen stillen Teich fielen.
    »Die Kunst besteht darin, dass ihr den Kopf freibekommt«, hatte Mariah ihnen erklärt. »Eure Gedanken loslasst.« Eine Strickerin arbeitete immer mit mindestens zwei Fäden zugleich: mit der tatsächlichen Faser und einem anderen, unsichtbaren Faden, dem Wesen der Strickerin, das sich in jeder Masche ausdrückte. Auf diese Weise vermochte sich ein Wunsch, der während des Strickens mit klarem Geist aufrechterhalten wurde, in das Gewebe hineinzuschlängeln und später, wenn sich das Gewebe in einen Pullover oder eine Mütze verwandelt hatte, zu verwirklichen. So gesehen war Zaubern nichts anderes als intensives, konzentriertes Wünschen. Es schien so einfach zu sein. Doch das war es nicht.
    Und so lernten die Mädchen von früh an, schweigend zu stricken und die widersprüchliche Aufgabe, an nichts zu denken, als mentale Vorbereitung auf den Tag anzusehen,an dem eine von ihnen, die erwählte Hüterin, tatsächlich Zauber stricken würde.
    Von allen drei Van-Ripper-Schwestern war Meggie, die jüngste, immer am unruhigsten gewesen, wenn Mariah sie abends im Salon zur Strickstunde zusammenrief. Die anderen Kinder im Kindergarten lernten gerade, sich die Schuhe zu binden, als Meggie bereits rechte und linke Maschen beherrschte – ob sie
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