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Die Wolke

Die Wolke

Titel: Die Wolke
Autoren: Gudrun Pausewang
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Stunde ausgehabt. Den Haustürschlüssel hatte ihm Mutti an einem roten Lederband um den Hals gehängt, und er hatte ihn nicht verloren. Zu Hause hatte er gleich seine Schulaufgaben gemacht. Als Janna-Berta drei Stunden später heimgekommen war, hatte er schon Kartoffeln geschält und den Tisch gedeckt gehabt. Am Abend hatte Mutti aus Jos Wohnung in Schweinfurt angerufen, und Janna-Berta hatte ihr berichten können, daß alles in bester Ordnung sei.
    »Vergiß nicht, ihm sein Pausenbrot mitzugeben«, hatte Mutti noch gesagt. Und Kai hatte ins Telefon genuschelt, er habe mit Jo die Enten gefüttert. Zum Schluß war Jo am Telefon gewesen: Sie verstehe überhaupt nicht, warum sich Mutti solche Gedanken um Janna-Berta und Uli mache. Sie, Jo, habe schon mit dreizehn Jahren ihre drei jüngeren Geschwister versorgen müssen, als ihre Mutter zur Entbindung des fünften Kindes im Krankenhaus gewesen sei. Ihr Vater sei Soldat gewesen und habe keinen Fronturlaub bekommen.
    Janna-Berta hatte Ulis Pausenbrot nicht vergessen, und heute wollten sie Reibekuchen machen. Das war Ulis Idee gewesen, denn Reibekuchen aß er für sein Leben gern. Ob er Angst hatte?
    »Wie weit ist es eigentlich bis Grafenrheinfeld?« fragte Janna-Berta.
    Einer schätzte siebzig, ein anderer achtzig Kilometer. Luftlinie. Eine lächerlich geringe Entfernung, das wußte Janna-Berta. War Tschernobyl nicht eintausendfünfhundert Kilometer entfernt gewesen?
    »Du vergißt den Wind«, sagte Lars. »Es kommt alles auf den Wind an. Nur Südostwind kann uns gefährlich werden, und den haben wir hier so gut wie nie. Bei uns weht der Wind fast immer von Westen.«
    »Und wie kam dann die verseuchte Luft von Tschernobyl zu uns?« fragte Janna-Berta.
    Schweigen. Dann redeten sie von der Wirkung der Erdumdrehung und von höhergelegenen Luftströmungen.
    »Wirklich blöd, daß mein Radio nicht funktioniert«, sagte Lars. »Die geben bestimmt alle fünf Minuten die Windrichtung durch.«
    »Oder auch nicht«, bekam er zur Antwort. »Die werden erst mal alles dransetzen, eine Panik zu verhüten. Ich sag euch, was passiert: Wir kriegen in regelmäßigen Abständen zu hören, dass es keinen Grund zur Beunruhigung gibt und daß sie alles absolut unter Kontrolle haben. Motto: RUHE IST DIE ERSTE BÜRGERPFLICHT.«
    »Warum halten wir nicht an und prüfen selber die Windrichtung?« fragte Janna-Berta.
    Lars scherte auf den Parkstreifen vor den Hemmener Teichen aus, sprang aus dem Wagen und ließ sein Taschentuch flattern.
    »Verdammte Scheiße, es ist Südostwind!«
    Er stürzte in den Wagen, kurbelte die Fenster hoch und erzwang sich mit lautem Gehupe den Weg zurück auf die Landstraße, wo sich die Wagenkolonne nach Norden bewegte.
    »Wenn das stimmt mit dem Südostwind«, sagte einer im Fond, »dann kann das Zeug in zwei Stunden hier sein.«
    »Red kein Blech«, knurrte Lars.
    »Blech? Zwanzig Minuten haben wir von Fulda hierher gebraucht – und wer weiß, wann die Scheiße passiert ist. Vielleicht schon vor Stunden! Dann sind wir hier längst eingedeckt –«
    Stumm fuhren sie durch das Dorf Hartershausen. Ein Traktor mit einem leeren Güllewagen tuckerte vom Feld herein, eine Frau machte dem Fahrer aufgeregte Zeichen. Eine Gardine bewegte sich: Hier schien niemand seine Sachen zu packen.
    Janna-Berta versuchte sich die Landkarte vorzustellen. Grafenrheinfeld mußte im Südosten liegen. Nein, Geographie war auch nie ihre starke Seite gewesen. Erst neulich hatte Vati nur den Kopf geschüttelt, als sie Erlangen im Odenwald vermutete. Ob sie sich blamierte, wenn sie fragte?
    Sie fuhren durch Üllershausen, das letzte Dorf vor Schlitz. Hier schleppten Leute Koffer aus den Häusern und bepackten ihre Wagen. Gerade, als Janna-Berta zu ihrer Frage ansetzen wollte, kam die Antwort.
    »Schweinfurt wird jetzt schon leer sein – vorausgesetzt, der Katastrophenschutz hat funktioniert.«
    »Wieso Schweinfurt?« fragte Janna-Berta erschrocken.
    »Du stellst Fragen«, antwortete Lars und kaute nervös an der Unterlippe. »Weil Schweinfurt direkt neben Grafenrheinfeld liegt – oder Grafenrheinfeld neben Schweinfurt, wie du willst.«Janna-Berta hielt den Atem an.
    »Wenn's ein SuperGAU war, kannst du den Katastrophenschutz vergessen«, hörte sie den Jungen hinter sich sagen. »Dann brauchen die in Schweinfurt nur noch Totengräber und Knochenmark-Transplantations-Spezialisten.«
    »Nur in Schweinfurt? Bist du sicher?« sagte Lars düster.
    »In Schweinfurt ... in Schweinfurt sind heute
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