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Die Wolke

Die Wolke

Titel: Die Wolke
Autoren: Gudrun Pausewang
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Autoradio kaputt ist«, knurrte Lars.
    SuperGAU. Jetzt erinnerte sich Janna-Berta: Damals, nach dem Unfall in dem russischen Kernkraftwerk, hatte man auch vom GAU geredet. Wochenlang. Sie war noch in der Grundschule gewesen, und ihr war unbegreiflich geblieben, was ihnen der Lehrer über »Rem« und »Becquerel« und »radioaktive Strahlung« zu erklären versucht hatte. Sie hatte sich nur den Namen des russischen Kernkraftwerks gemerkt: Tschernobyl. Und sie hatte begriffen, daß nun der Himmel und die Erde und vor allem der Regen irgendwie vergiftet waren. Wenn es regnete, durfte man in der Pause nicht auf den Hof. Logisch. Aber dann, nach Unterrichtsschluß, wurde man heimgeschickt, in den Regen hinaus, den vergifteten. Am ersten Tag hatte Janna-Berta sich weinend geweigert, das Schulgebäude zu verlassen. Der Regen war doch immer noch giftig! Im Wagen einer Lehrerin, die in ihrer Nachbarschaft wohnte, war sie schließlich daheim angekommen, schluchzend, und Oma Berta hatte sie »Dummerle« genannt. Der Regen sei doch gar nicht giftig, da hätte der Lehrer dummes Zeug erzählt.
    Inzwischen war Janna-Berta vierzehn, Schülerin der fünften Gymnasialklasse, und wußte mehr. SuperGAU: Das hieß, daß aus einem Atomkraftwerk Radioaktivität entwich – in gefährlichen Mengen. Und so ein Atomkraftwerk stand in Grafenrheinfeld. Wie weit war das eigentlich entfernt?
    Lars fuhr die Abkürzung über die Marienstraße. So umging er vier Ampeln. Es war eine stille Villengegend. Aber an diesem Tag fuhren drei Wagen vor Lars' altem Kadett her, und hinter ihm hupte es ungeduldig, obwohl Lars schon über sechzig fuhr.
    Im Fond diskutierten sie jetzt über die Art des Grafenrheinfelder Reaktors und darüber, was in einem solchen Reaktor passiert sein konnte. Immer wieder fielen die Wörter »Tschernobyl« und »Harrisburg« und »Brennstäbe«, »Kühlwasser« und »Druckbehälter«. Für Janna-Berta waren die vier Oberstufenschüler Atomkraft-Experten. Sie selber hatte sich nie sonderlich für Physik interessiert. Aber daß Atomkraftwerke gefährlich werden konnten, wußte sie. Nach Tschernobyl war sie mit ihren Eltern auf mehreren Demonstrationen gewesen. Sie erinnerte sich noch gut daran. Damals hatte es den Riesenkrach gegeben zwischen den Eltern und den Großeltern: Oma Berta und Opa Hans-Georg meinten, ohne Atomkraft gehe es einfach nicht mehr, die gehöre nun mal zum modernen Leben wie das Auto oder der Fernseher, und daß da in Tschernobyl was schiefgelaufen sei, das habe mit den deutschen Atomkraftwerken überhaupt nichts zu tun. Außerdem: Mit Demonstrationen bewege man gar nichts, das seien nur Tummelplätze für Träumer und Chaoten. Am wütendsten aber waren sie auf Mutti gewesen: Sie waren überzeugt, daß Vati nur durch sie auf derart dumme Ideen gekommen war.
    »Wir haben unseren Hartmut so erzogen«, hatte Opa Hans-Georg in einer der hitzigen Diskussionen gerufen, »daß er mit beiden Beinen in der Realität steht. Und jetzt das!«
    Wo die Marienstraße in die Niesigerstraße einmündete, gab es einen Stau. Den gab es hier sonst nie.
    »Astreine Panik«, sagte Lars trocken. »Die wollen alle zur Autobahn.«
    Janna-Bertas Eltern hatten seinerzeit sogar eine Bürgerinitiative gegen die Nutzung von Atomkraft mitgegründet. Aber inzwischen war Tschernobyl so gut wie vergessen. Die Atomkraftwerke in der Bundesrepublik hatten ohne nennenswerte Zwischenfälle weitergearbeitet, und die Bürgerinitiative war bald wieder eingeschlafen.
    »Tschernobyl war noch nicht genug«, hatte Vati einmal gesagt. »Es muß erst hier bei uns passieren, damit es dem Bundesbürger den Hintern aus dem Sessel reißt.«
    Jetzt erinnerte sich Janna-Berta auch, weshalb ihr der Name GRAFENRHEINFELD gleich so bekannt vorgekommen war: Mutti hatte einmal für die Bürgerinitiative Flugblätter abgezogen und verteilt. Janna-Berta hatte ihr dabei geholfen. Auf den Flugblättern waren die Standorte aller bundesdeutschen Kernkraftwerke zu sehen gewesen. Eines davon hatte  Grafenrheinfeld geheißen. Janna-Berta konnte sich nicht mehr genau erinnern, wo es lag. Aber sehr weit entfernt war es nicht.
    Uli wird jetzt aus der Schule heimlaufen, dachte sie unruhig.
    Sie kurbelte das Wagenfenster herunter. Rolläden rasselten, Leute hasteten aus einer Haustür. Auf der anderen Straßenseite lief eine Frau mit zwei kleinen Kindern. Das eine trug sie auf dem Arm, das andere zerrte sie hinter sich her. Ein Parterrefenster wurde geöffnet, eine Katze
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