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Die Witwen von Paradise Bay - Roman

Die Witwen von Paradise Bay - Roman

Titel: Die Witwen von Paradise Bay - Roman
Autoren: Random House
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seine Augen bohren mir geradezu ein Loch in den Hinterkopf, mein Bruder massiert sich hörbar die Hände, als müsste er sich daran hindern, mich an der Schulter zu packen und das Versprechen mit Gewalt aus mir herauszuschütteln. Natürlich wird Mom nicht mehr erfahren, ob ich mein Versprechen halte oder nicht, aber von Charlie wird eine solche Zusage auch nicht verlangt. Er wird nicht in der Hölle schmoren, weil er etwas versprochen hat, das er womöglich gar nicht halten kann.
    Ich blicke verstohlen zu Howie. Was suche ich in seinem Gesicht? Ein stilles Flehen vielleicht, mit ihm nach Toronto zurückzukehren, weil er sonst elendig zugrundegehen würde – doch er sitzt mit versteinerter Miene in der Ecke. Ich kann mich, selbst wenn ich etwas anderes wollte, dem letzten Wunsch einer Sterbenden nicht verweigern, und er kann es auch nicht von mir verlangen.
    »Ich verspreche es«, sage ich, und eine Woge der Erleichterung rauscht auf mich zu, sie umspielt meine Füße, zieht sich zurück und kehrt wieder, bis ich noch tiefer in ihren Wassern stehe. »Ich verspreche es«, sage ich ein zweites Mal und ohne Zögern, denn nun bin ich mir sicher. An diesem Ort liegt meine Zukunft, wenn ich auch noch nicht weiß, wie sie aussehen wird.
    Mom schaut mich an, ihre blauen Augen sind ungewöhnlich hell, wie eine Lieblingsjeans, die vom Waschen und Tragen vollkommen ausgeblichen ist. Sie lächelt mich zufrieden an, dann schließt sie die Augen. Eine halbe Stunde später verliere ich sie. Ihre Brust hebt und senkt sich nicht mehr, ihre Finger erschlaffen in meiner Hand, wenige Momente nur, nachdem Mom ihren letzten Atemzug getan hat. Ich halte ihre Hand, bis Charlie sie aus meiner löst und meiner Mutter die Hände auf die Brust legt.
    Ein wenig bin ich erleichtert, dass die Wache endlich vorüber ist. Ich schäme mich dafür, aber ich glaube, Charlie und Howie geht es ebenso. Wir sind alle erschöpft. Howie ruft das Beerdigungsinstitut an und trifft Vorkehrungen, dass Mom abgeholt wird, und zu meiner eigenen Überraschung bitte ich ihn, den Sarg aus dem Wohnzimmer zum Beerdigungsinstitut bringen zu lassen.
    »Bist du dir sicher?«, fragt er. Ich nicke. Schließlich war es ihr Wunsch, und im nüchternen Morgenlicht verblasst auch meine Angst. Endlich kann ich Charlies handwerkliches Geschick würdigen: Der Sarg ist eine solide Konstruktion, schlicht und dennoch reich geschmückt. Außerdem hat Quentin das Meer hineingemalt, und meine Mutter würde sich im Grabe umdrehen, wenn ich sie nicht in diesem Sarg beerdigen würde.
    »Stimmt es, dass man noch mal scheißt, wenn man tot ist?«, fragt Quentin, nachdem Mom fortgebracht wurde. Ich weiß es nicht, aber gehört habe ich das auch.
    »Sie hat sich zu Lebzeiten in die Hose geschissen«, sagt Charlie, »also wird sie im Tod auch nicht mehr Kontrolle über sich haben.« Ich hätte nicht geglaubt, dass Charlie so krass sein kann, aber angesichts der letzten Tage ist das verzeihlich. Quentin lacht, wohl eher aus Pflichtgefühl und nicht, weil er Charlies Bemerkung wirklich komisch findet.
    »Was machen die jetzt mit ihr?«, fragt Quentin. »Um sie vorzubereiten?«
    Mein Wissen über die Abläufe in Beerdigungsinstituten ist allenfalls lückenhaft. Ich will auch gar nicht so genau wissen, was nun mit ihr geschieht. Ich glaube, ihr Blut wird gegen Formaldehyd ausgetauscht, aber sicher bin ich nicht. »Sie wird geschminkt«, sage ich, als hätte meine Mutter einen Termin bei der Kosmetikerin.
    Moms Adressbuch entdecke ich am Telefontisch, oben im Flur, und erledige die ersten Anrufe. Mit jedem Telefonat fällt es mir schwerer, meine Gefühle auszudrücken. Alle stellen die gleichen Fragen und reagieren auf die gleiche Weise. Wenigstens ist sie im Kreise ihrer Lieben gestorben. So hat sie sich ihren Tod immer gewünscht – ruhig und friedlich. Ich berichte, wie die Wache verlaufen ist und wann die Beerdigung stattfindet, und rufe dann den Nächsten auf meiner Liste an.
    Als Tante Sade abhebt, sage ich ihren Namen besonders laut, für Charlie. »Tante Sade! Hallo!« Ich wiederhole meinen Sermon, berichte, wie lange die Wache gedauert hat, und teile meiner Tante, soweit das schon möglich ist, Einzelheiten zur Beerdigung mit. Doch diesmal erfolgt nicht die übliche Reaktion. Tante Sade gibt einen Triumphschrei von sich.
    »Ich wusste es!«, sagt sie mit Nachdruck, noch bevor ich sämtliche Informationen aufzählen konnte. »Meine liebe Schwester ist mir heute Morgen erschienen, und da
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