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Die Wiedergeburt

Die Wiedergeburt

Titel: Die Wiedergeburt
Autoren: Brigitte Melzer
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Geist griff, zwang ihn erneut aufzustehen. Wieder stützte er sich auf die Arme, und trotz der Schmerzen stemmte er sich nach oben. Als er das Gewicht jedoch auf seine Beine verlagern wollte, loderte nackte Pein durch seinen Körper. Die zertrümmerten Knochen fühlten sich an wie eine breiige Masse, die bei jeder Bewegung durch seinen Leib wogte, wie Gallert. Wieder sackte er zu Boden – und wieder zwang Andrej ihn hoch. Doch sobald er die Beine belastete, gaben die zerschmetterten Knochen unter ihm nach. Lucian wusste nicht, wie oft Andrej ihn dazu brachte, es immer und immer wieder zu versuchen. Ein gewöhnlicher Mensch wäre dabei längst zugrunde gegangen. Für Lucian hingegen bedeutete es eine nicht enden wollende Folter. Womöglich war dies doch die Hölle.
    Endlich musste Andrej einsehen, dass er zwar die Kontrolle über Lucians Verstand und damit auch über seinen Körper übernehmen konnte, ihn jedoch nicht zu Handlungen zwingen konnte, zu denen er in seinem Zustand nicht in der Lage war.
    ES SIEHT SO AUS, ALS KÖNNTEST DU MIR IM AUGENBLICK NICHT LÄNGER VON NUTZEN SEIN, BRUDER! DANN IST ES WOHL AN DER ZEIT, DASS WIR UNS TRENNEN – ZUMINDEST VORERST.
    Lucian wusste, was Andrej im Schilde führte. Er wollte seinen Leib verlassen, um nach oben zurückzukehren und Alexandra davon abzuhalten, dass Ritual zu vollenden.
    »Nicht doch«, presste er angestrengt hervor. »Wo wir uns gerade so nahe sind. Bleib doch noch ein Weilchen.«
    Andrej lachte, und Lucian spürte, wie er versuchte, seinen Leib zu verlassen. Es war, als dränge eine Sturmflut aus seinem Innersten nach außen. Aber Lucian war nicht bereit, ihn gehen zu lassen. Nicht jetzt! Mit aller ihm noch verbliebenen Kraft verflocht er seinen Geist mit dem seines Bruders und hielt ihn fest – ein Anker, der einem Sturm zu trotzen versuchte, der alles mit sich zu reißen drohte.
     
    *
     
    Alexandra wollte schon mit dem nächsten Abschnitt beginnen, als ihr bewusst wurde, dass nur noch das Weihwasser übrig war. Was hatte Lucian gesagt? Sie musste das Weihwasser in die Schale schütten, während sie den Vers aufsagte. Mit zitternden Fingern griff sie nach der Lederflasche und öffnete sie. Die Flasche in der einen, das Pergament in der anderen Hand, atmete sie noch einmal durch, als aus den Tiefen des Turms derart qualerfüllte Schreie an ihr Ohr drangen, dass sich ihr die Nackenhaare sträubten.
    »Lucian«, flüsterte sie und wäre um ein Haar aufgestanden, als die Schreie erneut durch den Turm hallten, doch Bothwell hielt sie fest.
    »Es gibt nur einen Weg, ihm zu helfen«, sagte er stur. »Sie müssen das Kreuz zerstören – danach können wir nur noch darauf vertrauen, dass uns genügend Zeit bleibt, sie von ihm fortzubringen.«
    Die Angst, Lucian könne sterben, und die Hoffnung, dass Bothwell recht haben und Lucian überleben würde, kämpften in ihr um die Oberhand. Obwohl es ihr schwerfiel, sitzen zu bleiben, ohne zu wissen, was dort unten mit Lucian geschah, nickte sie und schob alle Gefühle von sich. Einzig ihre zitternden Hände zeugten davon, wie aufgewühlt sie war. Langsam schüttete sie das Weihwasser in die Schale und begann zugleich, die letzten Zeilen des Rituals vorzulesen. So wie sie jedes Gefühl in ihrem Herzen verschloss, das sie an Lucian erinnerte, bannte sie auch jede Emotion aus ihrer Stimme. Wenn sie auch nur das geringste Empfinden zuließe, würde sie sich nicht länger unter Kontrolle haben.
    Das Weihwasser mischte sich mit den übrigen Bestandteilen. Längst war der angenehme Pfirsichgeruch des Ginsters verflogen, während die stechenden Gerüche anderer Ingredienzien geblieben waren und ihr in Nase und Augen stiegen. Wieder und wieder rezitierte sie den letzten Abschnitt, ganz wie Lucian gesagt hatte. Bis die Mischung bereit ist. Würde sie wirklich erkennen, wenn es soweit war? Noch schien die Zeit nicht reif zu sein, deshalb las sie den Vers noch einmal von vorne. Die Flüssigkeit brodelte in der Schale, schlug immer größere Blasen, die mit einem leisen Plopp zerplatzten und dabei ein durchdringendes Aroma verströmten.
    Wann? , fragte sie sich und begann noch einmal mit dem Abschnitt.
    Als sie beinahe am Ende des Verses angelangt war, stieg plötzlich weißer Rauch aus der Schale empor. Ein beißender Geruch erfüllte die Luft und drang ihr in die Nase. Der Qualm wurde zunehmend dichter. Mehr und mehr raubte er ihr die Sicht, nahm ihr den Atem und brannte in ihren Augen, bis sie tränten.
    Alexandra hoffte
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