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Die Wesen (German Edition)

Die Wesen (German Edition)

Titel: Die Wesen (German Edition)
Autoren: Philip Lux
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fahren.“
    Dies war der einzig heikle Punkt ihrer Beziehung. Weniger von Laimas Seite. Ihre Mutter hatte sich selbst nie verziehen. Als leitende Chefärztin der Notaufnahme eines der größten Krankenhäuser der Stadt, das sie selbst vor dreißig Jahren aufgebaut hatte, war sie unentbehrlich. Ständige Nacht- und Vierundzwanzigstundendienste hatten dazu geführt, dass Laima so manche Nacht mit ihrem Vater in einer Kneipe verbrachte, während andere Kinder längst schliefen. Laima hatte sich damit abgefunden und ihren Frieden gemacht, dass ihre Mutter sich in den Dienst einer größeren Sache gestellt hatte. Ihre Mutter aber war nie darüber hinweggekommen, dass sie nicht genug Zeit für Laima gehabt hatte.
    Umso mehr genossen beide die gemeinsamen Wochenenden im Landhaus, das ihre Mutter nach der Scheidung gekauft hatte. Sie pflückten Lindenblüten oder andere Kräuter für Tees und trockneten sie auf dem Dachboden, unter den in der Sonne knackenden Holzschindeln.
    „Fahr nur, Mama. Einer muss ja die Welt retten“, sagte sie und lächelte schief.
    „Ich liebe dich, mein Mädchen. Vergiss das nie!“
    „Ich dich auch, Mama. Von ganzem Herzen.“
    Beide umarmten sich und Laima brachte sie zur Tür.
     
    Laima ließ sich auf die Couch sinken. Ihre Hände um die warme Tasse. Sie trank einen Schluck. Die Katzen schnurrten zu ihren Füßen. Sie streckte sich aus. Wie kurz die Couch geworden war. Sie hatte sie ihre ganze Kindheit hindurch begleitet. Das Piepen einer Kurznachricht unterbrach ihre Gedanken. Tooms. Er war ihr nicht hinterhergelaufen. Schweiß brach ihr aus. Wollte sie überhaupt mit ihm reden? Wollte sie ihn überhaupt zurück? Wäre sie einen Flieger später gekommen, hätte die Lüge überlebt.
    Sie öffnete die Nachricht.
     
    KOMMEN SIE UM ZEHN IN MEIN BÜRO. DRINGEND!
    PROF. BERSINSCH
     
    Bersinsch war ihr Lieblingsprofessor. Die Gletschertour nach Österreich war seine Idee. Er war aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten und hatte Laima geschickt. Eine halbe Stunde blieb ihr noch. Sie schüttete ihren Rucksack aus, suchte die letzten sauberen Sachen. Dann stopfte sie alles zurück und sprang unter die Dusche.
     
    Laima verließ die Wohnung und durchquerte den Johannishof, als sie das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Sie drehte sich um und blickte zum offenen Küchenfenster hoch. Filips und Franzene balancierten hinter den roten Geranien über die Holzbalustrade und sahen zu ihr hinunter.
     
    Laima ging weiter und schob sich durch eine Gruppe Touristen, die in der engen Gasse hinter der Johanniskirche den Taubenmann fotografierten. Er spielte Flöte, während sich auf seinem Kopf, den Armen und Schultern weiße und blaue Tauben zur Freude der Besucher drängten. Vor der Peterskirche standen Souvenir- und Bernsteinverkäuferinnen mit ihren Wagen, die wie rollende Schatztruhen aus geflochtenem Korb aussahen. Laima wandte sich nach rechts in Richtung Domplatz.
    Oben auf dem Gletscher, ohne eine Blume, ohne einen Grashalm, war ihr zur Sommersonnenwende bewusst geworden, was ihr Mittsommer, das Johannisfest, bedeutete. Die Blumenkränze, die Trachten und der Tanz. Der Domplatz öffnete sich vor ihr. Der Kräutermarkt tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Einen Tag vor dem eigentlichen Fest wurden hier Kräuter und Kränze verkauft. Wie ein mittelalterlicher Markt mochte es aussehen, aber es war viel mehr. Volkstänzer zeigten ihr Können und luden jeden ein, es ihnen nachzumachen. Tanzdielen waren über das Kopfsteinpflaster gezimmert worden. Und nicht selten ging es bis tief in die Nacht. Allen Besatzern hatten die Bräuche über die Jahrhunderte hinweg getrotzt. Es war das Herz und die Seele der Menschen.
    Sie lauschte einem jungen Fremdenführer, der mit seiner Gruppe in ihrer Nähe stehen blieb.
    „... sind mehrere Tausend Jahre alt. Die Dainas lassen sich mit den indischen Mantras vergleichen, wobei ihr Ursprung vermutlich noch weiter zurückreicht. Sie werden als Kraftworte aufgesagt oder gesungen, wie alle fünf Jahre beim weltberühmten Sängerfest, bei dem mehr als zwölftausend Menschen gleichzeitig auf der Bühne stehen. Natürlich nur ausgebildete Chöre.“ Die Gruppe lachte.
    Laima hatte seit ihrer Jugend mehrfach teilgenommen. Das Gefühl auf der Tribüne, so groß wie ein halbes Fußballstadion, war unbeschreiblich. Dazu waren alle Sänger in Tracht. Die Männer mit Eichenkränzen auf dem Kopf. Die Frauen mit Blumenkränzen und mit dem Nationalgürtel, Lielvardes Gürtel, um
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