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Die Wesen (German Edition)

Die Wesen (German Edition)

Titel: Die Wesen (German Edition)
Autoren: Philip Lux
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Schweiß brach ihr aus. Wollte sie überhaupt mit ihm reden? Wollte sie ihn überhaupt zurück? Wäre sie einen Flieger später gekommen, hätte die Lüge überlebt.
    Sie öffnete die Nachricht.
     
    KOMMEN SIE UM ZEHN IN MEIN BÜRO. DRINGEND!
    PROF. BERSINSCH
     
    Bersinsch war ihr Lieblingsprofessor. Die Gletschertour nach Österreich war seine Idee. Er war aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten und hatte Laima geschickt. Eine halbe Stunde blieb ihr noch. Sie schüttete ihren Rucksack aus, suchte die letzten sauberen Sachen. Dann stopfte sie alles zurück und sprang unter die Dusche.
     
    Laima verließ die Wohnung und durchquerte den Johannishof, als sie das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Sie drehte sich um und blickte zum offenen Küchenfenster hoch. Filips und Franzene balancierten hinter den roten Geranien über die Holzbalustrade und sahen zu ihr hinunter.
     
    Laima ging weiter und schob sich durch eine Gruppe Touristen, die in der engen Gasse hinter der Johanniskirche den Taubenmann fotografierten. Er spielte Flöte, während sich auf seinem Kopf, den Armen und Schultern weiße und blaue Tauben zur Freude der Besucher drängten. Vor der Peterskirche standen Souvenir- und Bernsteinverkäuferinnen mit ihren Wagen, die wie rollende Schatztruhen aus geflochtenem Korb aussahen. Laima wandte sich nach rechts in Richtung Domplatz.
    Oben auf dem Gletscher, ohne eine Blume, ohne einen Grashalm, war ihr zur Sommersonnenwende bewusst geworden, was ihr Mittsommer, das Johannisfest, bedeutete. Die Blumenkränze, die Trachten und der Tanz. Der Domplatz öffnete sich vor ihr. Der Kräutermarkt tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Einen Tag vor dem eigentlichen Fest wurden hier Kräuter und Kränze verkauft. Wie ein mittelalterlicher Markt mochte es aussehen, aber es war viel mehr. Volkstänzer zeigten ihr Können und luden jeden ein, es ihnen nachzumachen. Tanzdielen waren über das Kopfsteinpflaster gezimmert worden. Und nicht selten ging es bis tief in die Nacht. Allen Besatzern hatten die Bräuche über die Jahrhunderte hinweg getrotzt. Es war das Herz und die Seele der Menschen.
    Sie lauschte einem jungen Fremdenführer, der mit seiner Gruppe in ihrer Nähe stehen blieb.
    „... sind mehrere Tausend Jahre alt. Die Dainas lassen sich mit den indischen Mantras vergleichen, wobei ihr Ursprung vermutlich noch weiter zurückreicht. Sie werden als Kraftworte aufgesagt oder gesungen, wie alle fünf Jahre beim weltberühmten Sängerfest, bei dem mehr als zwölftausend Menschen gleichzeitig auf der Bühne stehen. Natürlich nur ausgebildete Chöre.“ Die Gruppe lachte.
    Laima hatte seit ihrer Jugend mehrfach teilgenommen. Das Gefühl auf der Tribüne, so groß wie ein halbes Fußballstadion, war unbeschreiblich. Dazu waren alle Sänger in Tracht. Die Männer mit Eichenkränzen auf dem Kopf. Die Frauen mit Blumenkränzen und mit dem Nationalgürtel, Lielvardes Gürtel, um die Taille. Auf ihm zeigten Symbole nicht nur Lettlands Geschichte, sondern die Geschichte der Welt.
    Sie ging um den Dom herum, denn Professor Bersinschs Büro lag im Rigaer Geschichts- und Schifffahrtsmuseum. Im Schatten einiger Eichen wehte ein angenehm kühler Wind von der Düna herauf, die am Ende der Straße in der Sonne glitzerte. Auf der anderen Seite des Flusses lag die Nationalbibliothek, die einem Glasberg, dem mythologischen Bild für die Quelle allen Wissens, nachempfunden war.
    Laima bog um die Ecke des Klosterhofs, der den Dom mit dem Museum verband. Das gotische Backsteingebäude lag etwas zurückversetzt. Aus seinem Dach ragten kleine spitze Fenstergiebel empor, hinter denen sich Professor Bersinschs Forschungsstätte befand. Sie schob die schwere Eisentür des Portals auf. Die Aura von Geschichte und Zeit umspülte sie. Das Buntglasfenster tauchte das Treppenhaus in ein gedämpftes Licht. Sie stieg die Stufen empor, kam am Säulensaal vorbei und ging durch einen Ausstellungsraum mit Überresten von Pfahlbauten und altem Schmuck. Schließlich erreichte sie eine Ritterrüstung, die, wie ein stummer Wächter, neben der Tür stand, die verborgen unter der Tapete mit der Wand verschmolz.
    „Dace.“ Überrascht wich Laima zurück, als Professor Bersinschs Assistentin aus der Tür stürzte.
    „Du falsche Schlange“, sagte sie zu Laima. „Von dir lasse ich mir meine Karriere nicht kaputt machen. Hast du für Bersinsch die Beine breitgemacht?“
    „Ich glaube, wenn du denkst, dass ihn das interessiert, hast du dir den falschen
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