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Die Welt ohne uns

Die Welt ohne uns

Titel: Die Welt ohne uns
Autoren: Alan Weisman
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Puszcza Bialowieska. Triumphierend reckt er zwei Schwerter empor, die er dem gerade besiegten Feind Polens, den deutschen Ordensrittern, abgenommen hat.
    Das Jagiello-Denkmal wurde im Central Park aufgestellt und blickt auf den Turtle Pond hinab, wie der Teich heute heißt.
    Wenn Dr. Eric Sanderson Besuchergruppen durch den Park führt, achtet er gewöhnlich nicht auf Jagiellos Standbild, weil er mit seinen Besuchern in eine ganz andere Zeit eingetaucht ist, ins 17. Jahrhundert. Sanderson – Brille unter breitkrempigem Filzhut, ergrauender, gestutzter Kinnbart und Laptop im Rucksack – ist Landschaftsökologe bei der Wildlife Conservation Society, einem weltweit tätigen Heer von Forschern, die versuchen, eine gefährdete Welt vor sich selbst zu retten. Vom Verwaltungsgebäude des Zoos in der Bronx aus leitet Sanderson das Mannahatta Project, einen virtuellen Versuch, die Insel Manhattan so zu rekonstruieren, wie sie sich 1609 Henry Hudson bei der ersten Expedition in die Bucht von New York darstellte: eine präurbane Vision, die zu Spekulationen über das Erscheinungsbild einer posthumanen Zukunft anregt.
    Sandersons Forschungsgruppe hat holländische Originaldokumente, Militärkarten aus britischer Kolonialzeit, Unterlagen über Landvermessungen und jahrhundertealte Aktenstücke in verschiedenen Stadtarchiven durchforstet. Es wurden Sedimentproben genommen, fossile Pollen analysiert und Tausende von biologischen Daten in bildgebencle Programme eingespeist, um dreidimensionale Panoramen jener dicht bewaldeten Wildnis zu erzeugen, die sich einst an der Stelle ausbreitete, wo sich heute ein Teil New Yorks befindet. Mit jeder neuen Gras- oder Baumart, die historisch in irgendeinem Teil der Stadt dokumentiert ist, werden die Bilder detaillierter, verblüffender und überzeugender. Ziel des Projekts ist ein Plan, der Häuserblock für Häuserblock jenen Geisterwald entstehen lasst, der Eric Sanderson unheimlicherweise sogar dann vor Augen steht, wenn er den Bussen in der Fifth Avenue ausweicht.
    Wenn Sanderson durch den Central Park wandert, ist er in der Lage, durch die fast 400000 Kubikmeter Erde hindurchzusehen, die von Frederick Law Olmstead und Calvert Vaux, den Planern des Parks, herbeigeschafft wurden, um damit das überwiegend sumpfige und von verschiedenen Sumach-Arten bewachsene Feuchtgebiet aufzufüllen. Er kann die Uferlinie des langen, schmalen Sees nachzeichnen, der sich entlang der heutigen 59. Straße nördlich des Plaza Hotels erstreckte und mit seinem mäandernden Abfluss die Salzsümpfe zum East River durchzog. Von Westen aus sieht Sanderson zwei Bäche in den See münden, welche die Hänge eines höheren Hügelkamms entwässerten, eines Wildwechsels für Hirsche und Pumas, der heute Broadway heißt.
    Überall in der Stadt sieht Sanderson Wasser fließen, das großenteils aus dem Untergrund hervorsprudelt: »So ist die Spring Street zu ihrem Namen gekommen.« Er hat mehr als vierzig Bäche und Flüsschen ausfindig gemacht, die einst diese hügelige Felseninsel durchflössen: In der Algonquin-Sprache der ersten menschlichen Bewohner, der Lenni Lenape, bezeichnete der Name Mannahatta diese heute nicht mehr vorhandenen Hügel. Als New Yorks Stadtplaner im 19. Jahrhundert allem, was nördlich von Green wich Village lag, ein Gitternetz aufdrückten – der Straßenwirrwarr im Süden ließ sich dieser Ordnung beim besten Willen nicht mehr unterwerfen –, setzten sie sich über alle topografischen Gegebenheiten hinweg. Von einigen massiven Schieferklippen im Central Park und an der Nordspitze der Insel abgesehen, wurde Manhattans vielfältig gegliedertes Terrain in Bachbetten geschoben, dann eingeebnet und nivelliert, um genügend Platz für die expandierende Stadt zu schaffen.
    Später entstanden neue Umrisse, diesmal von geraden Linien und scharfen Winkeln geprägt, wie denn auch das Wasser, das der Landschaft einst ihre Gestalt verlieh, in ein unterirdisches Rohrnetz gezwängt wurde. Eric Sandersons Mannahatta Project zeigt, wie genau die moderne Kanalisation den Wegen der alten Wasserläufe folgt, wenngleich das von Menschenhand geschaffene System die Abwässer nicht so effizient wie die Natur abzuleiten vermag. Auch in einer Stadt, die ihre Flüsse vergraben habe, sagt er, »gibt es weiterhin Regen, und der muss irgendwohin«.
    Genau das wird sich als der entscheidende Ansatzpunkt erweisen, wenn sich die Natur eines Tages anschickt, Manhattans harte Schale aufzubrechen. Anfangs ginge alles sehr rasch,
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