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Die Welt auf dem Kopf

Die Welt auf dem Kopf

Titel: Die Welt auf dem Kopf
Autoren: Milena Agus
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Blick starr werden lassen, und vom vielen Weinen hatte sie Tränensäcke unter den Augen. Da uns schon damals keiner mehr besuchte, drängte mich Mama immer wieder, Freunde nach Hause einzuladen. Als nie jemand kam, beschloss sie, eben selbst zu den Leuten zu gehen. Wir machten uns fein und verließen Hand in Hand das Haus, um Freunde oder Bekannte zu besuchen, aber es machte nie jemand auf.
    Nachdem meine Tante mein Vormund geworden war, lud sie niemanden mehr zu sich ein, und ich besuchte sie nur, wenn die Familie unter sich war. Aber auch wenn wir unter uns waren, sprach man nie über mich und meine Belange, zum Beispiel darüber, wie es mir in der Schule ging oder was ich dachte oder was mir gefiel. Und auch von meinen Eltern sprach man nie. Papa wurde nie mehr erwähnt, und Mamas Name, Ofelia, fiel nur, wenn es sich um organisatorische Dinge handelte oder man sich mit den Ärzten oder Mamas Betreuerin abstimmen musste.
    Von meinen Eltern weiß ich also nur das Wenige, was mir in Erinnerung geblieben ist, wobei ich noch recht klein war, als das Unglück geschah.
    In Cagliari hingegen durfte ich vorhanden sein, auch wenn es nur für die Dauer der Sommerferien war. Morgens ging ich zum Strand, und abends las ich Bücher mit Kinderreimen, die ich auswendig lernte, weil ich diese Welt liebte,in der alles auf dem Kopf stand und trotzdem alle glücklich waren. Alles war schön hier. In meiner Kindheit waren die Tauben noch nicht so aufdringlich wie heute und nicht so aggressiv und so zerrupft, sondern aufgeplustert und gefühlvoll. Es war eine Freude, sie gurren zu hören, immerzu waren sie verliebt, und natürlich machten sie damals auch schon Dreck, aber sie waren dabei höflicher, rücksichtsvoller. Manchmal, wenn sich ein kranker Spatz in unsere Wohnung verirrte, pflegten wir ihn gesund und ließen ihn dann wieder frei. Abends duftete es nach Basilikum, und vom Fenster zum Hof sah man den noch blassen Mond einträchtig mit der Sonne am Himmel stehen.
    Hier in der Stadt gelang es mir, nicht an meine Mama zu denken, die meinen Papa immer anschrie: »Ich wünschte, du wärest tot!« Als wir ihn dann tot von der Decke baumelnd fanden, mit frisch polierten Schuhen, stellte sich heraus, dass das gar nicht stimmte, es war ihr gar nicht lieber, dass er tot war. Und da wurde sie dann endgültig wahnsinnig. Während Papa im Nebenzimmer auf sein Begräbnis wartete, sorgte sie sich, dass die Gäste, die zum Kondolieren gekommen waren, etwas zu trinken bekamen. »Ist etwas da, was wir ihnen anbieten können?« »Gibt es im Kühlschrank Fruchtsäfte?« Sie erinnerte sich nicht mehr, dass er tot nebenan lag, vielleicht dachte sie, die Leute hätten sich anders besonnen und kämen endlich wieder zu Besuch, so wie früher.
    Aber nichts war mehr wie früher. Alles hatte sich verändert, und die Eltern der anderen Kinder sahen es nichtgern, wenn sie mit mir zusammen waren, als fürchteten sie, sie könnten sich bei mir anstecken. Also war ich immer allein in unserem Garten und gewöhnte mich daran, nur noch das Nötigste zu sprechen. Deswegen nannte mich meine Lehrerin »Kleiner stummer Buchstabe«, der Titel eines italienischen Kindergedichts. Mir schien, als hätten sich sämtliche Eltern meiner Schulkameraden gegen mich verschworen und ihren Kindern eingebläut, einen Bogen um mich zu machen. Nur mit einer Schulkameradin war ich eine kurze Zeit dick befreundet, einem Mädchen aus einer der ärmsten Familien des Dorfes, das gern den Clown spielte und dessen Mutter die Dorfbewohner egua nannten, Hure.
    Ich lud sie in unseren schönen alten Garten ein und sie mich zum Essen zu sich nach Hause, und auch wenn ihre Mutter eine egua war, so war sie herzlich zu mir, und mir schmeckte es bei ihnen. Zu Hause oder bei meiner Tante hingegen schnürte es mir den Magen zu, und wenn ich mich zwang, wenigstens ein paar Bissen herunterzubekommen, wurde mir übel. Es war eine kurze, glückliche Episode, aber dann mussten meine Tante und mein Onkel dafür gesorgt haben, dass man uns trennte, weil das Mädchen angeblich ein schlechter Umgang für mich war. Von da an war ich wieder allein auf meiner Schulbank oder in meinem geliebten Garten, wo es so herrlich nach Blumen duftete, dass man es sogar jenseits der Mauer riechen konnte, und wo abends der Mond wie ein weißes Gespenst zwischen den Zweigen der Bäume am hellen Himmel erschien, noch bevor er sichnachtblau zu verfärben begann. Eine mondförmige Wolke. Ich kannte alle Blumen und Pflanzen: die
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