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Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Titel: Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Autoren: Arthur Schopenhauer
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Erscheinung, sich bejaht oder verneint. Darüber aber noch hinausgehn wollen ist, in meinen Augen, wie über die Atmosphäre hinausfliegen wollen. Wir müssen dabei stehn bleiben; wenn gleich aus gelösten Problemen neue hervorgehn. Zudem aber ist darauf zu verweisen, daß die Gültigkeit des Satzes vom Grunde sich auf die Erscheinung beschränkt: dies war das Thema meiner ersten, schon 1813 herausgegebenen Abhandlung über jenen Satz. –
    Jetzt gehe ich an die Ergänzungen einzelner Betrachtungen, und will damit anfangen, meine § 67 des ersten Bandes gegebene Erklärung des Weinens , daß es nämlich aus dem Mitleid, dessen Gegenstand man selbst ist, entspringt, durch ein Paar klassischer Dichterstellen zu belegen. – Am Schlusse des achten Gesanges der Odyssee bricht Odysseus, der bei seinen vielen Leiden nie weinend dargestellt wird, in Thränen aus, als er, noch ungekannt, beim Phäaken-König vom Sänger Demodokos sein früheres Heldenleben und Thaten besingen hört, indem dieses Andenken an seine glänzende Lebenszeit in Kontrast tritt mit seinem gegenwärtigen Elend. Also nicht dieses selbst unmittelbar, sondern die objektive Betrachtung desselben, das Bild seiner Gegenwart, hervorgehoben durch die Vergangenheit, ruft seine Thränen hervor: er fühlt Mitleid mit sich selbst. – Die selbe Empfindung läßt Euripides den unschuldig verdammten und sein eigenes Schicksal beweinenden Hippolytos aussprechen:

    Pheu eith; ên emauton prosblepein enantion
    stanth', hôs edakrys', hoia paschomen kaka .
    (1084.)

    (Heu, si liceret mihi, me ipsum extrinsecus spectare, quantopere deflerem mala, quae patior.)

    Endlich mag, als Beleg zu meiner Erklärung, hier noch eine Anekdote Platz finden, die ich der Englischen Zeitung » Herald « vom 16. Juli 1836 entnehme. Ein Klient, als er vor Gericht die Darlegung seines Falls durch seinen Advokaten angehört hatte, brach in einen Strohm von Thränen aus und rief: »Nicht halb so viel glaubte ich gelitten zu haben, bis ich es heute hier angehört habe!« –
    Wie, bei der Unveränderlichkeit des Charakters, d.h. des eigentlichen Grundwollens des Menschen, eine wirklich moralische Reue dennoch möglich sei, habe ich zwar § 55 des ersten Bandes dargelegt, will jedoch noch die folgende Erläuterung hinzufügen, der ich ein Paar Definitionen voranschicken muß. – Neigung ist jede stärkere Empfänglichkeit des Willens für Motive einer gewissen Art. Leidenschaft ist eine so starke Neigung, daß die sie anregenden Motive eine Gewalt über den Willen ausüben, welche stärker ist, als die jedes möglichen, ihnen entgegenwirkenden Motivs, wodurch ihre Herrschaft über den Willen eine absolute wird, dieser folglich gegen sie sich passiv, leidend verhält. Hiebei ist jedoch zu bemerken, daß Leidenschaften den Grad, wo sie der Definition vollkommen entsprechen, selten erreichen, vielmehr als bloße Approximationen zu demselben ihren Namen führen; daher es alsdann doch noch Gegenmotive giebt, die ihre Wirkung allenfalls zu hemmen vermögen, wenn sie nur deutlich ins Bewußtseyn treten. Der Affekt ist eine eben so unwiderstehliche, jedoch nur vorübergehende Erregung des Willens, durch ein Motiv, welches seine Gewalt nicht durch eine tief wurzelnde Neigung, sondern bloß dadurch erhält, daß es, plötzlich eintretend, die Gegenwirkung aller andern Motive, für den Augenblick, ausschließt, indem es in einer Vorstellung besteht, die, durch ihre übermäßige Lebhaftigkeit, die andern völlig verdunkelt, oder gleichsam durch ihre zu große Nähe sie ganz verdeckt, so daß sie nicht ins Bewußtseyn treten und auf den Willen wirken können, wodurch daher die Fähigkeit der Ueberlegung und damit die intellektuelle Freiheit 78 in gewissem Grade aufgehoben wird. Demnach verhält sich der Affekt zur Leidenschaft wie die Fieberphantasie zum Wahnsinn.
    Eine moralische Reue ist nun dadurch bedingt, daß, vor der That, die Neigung zu dieser dem Intellekt nicht freien Spielraum ließ, indem sie ihm nicht gestattete, die ihr entgegenstehenden Motive deutlich und vollständig ins Auge zu fassen, vielmehr ihn immer wieder auf die zu ihr auffordernden hinlenkte. Diese nun aber sind, nach vollbrachter That, durch diese selbst neutralisirt, mithin unwirksam geworden. Jetzt bringt die Wirklichkeit die entgegenstehenden Motive, als bereits eingetretene Folgen der That, vor den Intellekt, der nunmehr erkennt, daß sie die starkem gewesen wären, wenn er sie nur gehörig ins Auge gefaßt und erwogen
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