Die Weiße Rose
Vernichtungswahn entgegenzutreten. Die Freunde hatten gesehen, wie dort draußen das Leben aufs Spiel gesetzt und verschwendet wurde. Wenn schon das Leben riskiert werden sollte, warum nicht gegen die Ungerechtigkeit, die zum Himmel schrie. Nun waren sie zurückgekehrt; nun sollte auch mit dem Entschluß, den sie an jenem Abschiedsabend gefaßt hatten, Ernst gemacht werden.
In der Nähe der Wohnung meiner Geschwister gab es ein Hinterhaus mit einem geräumigen Atelier. Ein Künstler, der dem Freundeskreis sehr nahe stand, hatte es ihnen zur Verfügung gestellt, als er selbst an die Front mußte. Niemand sonst wohnte in dem Häuschen. Hier trafen sie sich nun oft. Und manchmal kamen sie bei Nacht zusammen und arbeiteten Stunden um Stunden im Keller des Ateliers am Vervielfältigungsapparat. Das war eine große Geduldsprobe, Tausende und Tausende von Blättern abzuziehen. Aber auch eine große Befriedigung erfüllte sie dabei, endlich aus der Untätigkeit und Passivität herauszutreten und zu arbeiten. Manche fröhliche Nacht mögen sie so bei der Arbeit verbracht haben. Aber diese Freude wurde von übermenschlicher Sorge überschattet. Sie empfanden schmerzlich, wie grenzenlos isoliert sie waren, und daß vielleicht die besten Freunde sich entsetzt zurückziehen würden, wüßten sie davon. Denn allein das Mitwissen war ja eine ungeheure Gefährdung. Sie waren sich in solchen Stunden voll bewußt, daß sie auf einem schmalen Grat gingen. Wer wußte denn, ob man ihnen nicht inzwischen schon auf der Spur war, ob die Nachbarn, die sie arglos grüßten, nicht schon ein Unternehmen eingeleitet hatten, sie alle zu fangen? Ob hinter ihnen irgendeiner auf der Straße ging, der ihre Wege beobachtete? Ob nicht schon die Abdrücke ihrer Finger aufgenommen waren? Der feste Boden der Stadt war zu einem brüchigen Gewebe geworden; würde er sie morgen noch tragen? Jeder Tag, der zu Ende ging, war ein Geschenk des Lebens, und jede Nacht, die hereinbrach, brachte die Sorge um das Morgen, und nur der Schlaf war eine barmherzige Decke. Die Sehnsucht, nur einmal das schwere, gefährliche Tun abzuschütteln und frei und wieder unbeschwert zu sein, ergriff sie zuweilen mit großer Gewalt. Es gab Augenblicke und Stunden, da es ihnen einfach zu schwer werden wollte, und in denen die Unsicherheit und die Angst wie ein Meer über ihnen zusammenschlug und ihren Mut begrub. Dann blieb ihnen nichts mehr, als in ihr eigenes Herz hinabzusteigen, dorthin, wo ihnen eine Stimme sagte, daß sie recht taten, und daß sie es tun müßten, auch wenn sie ganz allein in der Welt stünden. Ich glaube, in solchen Stunden haben sie frei mit Gott sprechen können, mit ihm, dem sie tastend in ihrer Jugend nachgingen. In dieser Zeit wurde ihnen Christus der seltsame, große Bruder, der immer da war, noch näher als der Tod. Der Weg, der kein Zurück duldete, die Wahrheit, die auf so viele Fragen Antwort gab, und das Leben, das volle, erfüllte Leben.
Eine weitere wichtige Arbeit neben der Herstellung der Flugblätter war ihre Verbreitung. Sie sollten ja in möglichst viele Städte gelangen, sollten wirken, so weit es nur ging. Nie zuvor hatten sie etwas Ähnliches getan. Alles mußte ausgedacht und probiert werden. Welche Möglichkeiten gab es, die Flugblätter in die Hände der Leute zu spielen? An welchen Plätzen und Orten mußte man sie niederlegen, damit möglichst viele Augen sie entdeckten, ohne jedoch die Spur zu den Urhebern zu finden? Sie packten sie in Koffer und fuhren mit ihrer gefährlichen Ware selbst in die großen Städte Süddeutschlands, um sie dort zu verbreiten, nach Frankfurt, Stuttgart, Wien, Freiburg, Saarbrücken, Mannheim, Karlsruhe.
Sie mußten ihr Gepäck irgendwo an einem unauffälligen Ort im Zug abstellen, sie mußten es durchbringen durch die zahlreichen Streifen von Wehrmacht, Kriminalpolizei oder gar Gestapo, die die Züge und manchmal auch die Koffer kontrollierten. Und in den Städten, in denen sie oft bei Nacht ankamen und in die Fliegeralarme hineingerieten, mußten sie versuchen, ihren Auftrag geschickt und lohnend zu erledigen. Welch ein Sieg, wenn man eine solche Reise glücklich bestanden hatte und im Zug erleichtert und befreit schlafen konnte, den leeren Koffer harmlos über sich im Gepäcknetz. Und welche Sorge bei jedem Blick, der sich an einen heftete. Welcher Schrecken, sooft ein Mensch auf einen zukam – und welche Erleichterung, wenn er vorbeiging. Herz und Kopf, Sinn und Verstand arbeiteten unablässig, ob
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