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Die Weiße Rose

Die Weiße Rose

Titel: Die Weiße Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Scholl
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antworteten die Schwestern in ihrer ohnmächtigen Ratlosigkeit. Von da an stiegen die Kinder singend in die fremden Wagen.
    »Aber nur über meine Leiche«, soll ein Arzt einer solchen Anstalt gesagt haben. Es wurde erst später bekannt, daß ein zähes Entgegentreten gegen diese Mordpraktiken nicht erfolglos gewesen war. So konnte Pastor Fritz von Bodelschwingh gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Pastor Paul-Gerhard Braune erreichen, daß die Tötungspläne der Nazis in Bethel nicht durchgesetzt werden konnten. Ein Soldat kam auf Urlaub aus Rußland nach Hause. Er war der Vater eines solchen Kindes, und er hörte nicht auf zu hoffen, daß es wieder seine gesunden Sinne bekommen würde. Er liebte dieses Wesen, wie man eben nur sein eigenes Kind lieben kann. Aber als er aus Rußland nach Hause kam, war es nicht mehr am Leben.
     
    Ein glücklicher Zufall hatte Hans an der Front in die Nähe des jüngsten Bruders geführt. Diese Freude und Überraschung, als da plötzlich mitten im weiten Rußland eine wohlvertraute Stimme vor dem Bunker nach Werner fragte.
    An einem goldenen Spätsommertag erhielt Hans die Nachricht von Vaters Verurteilung. Er nahm ein Pferd und machte sich gleich auf den Weg zu Werner. »Ich habe einen Brief von zu Hause«, sagte Hans und reichte ihn dem kleinen Bruder hin. Der las und sagte kein Wort. Er sah mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne und schwieg. Da tat Hans etwas Ungewöhnliches. Er legte die Hand auf die Schulter des Bruders und sagte: »Wir müssen das anders tragen als andere. Das ist eine Auszeichnung.«
    Hans ritt langsam zu seiner Kompanie zurück. Eine grenzenlose Wehmut erfüllte ihn. Erinnerungen stiegen in ihm auf.
    Sie hatten während des Transports an einer polnischen Station einige Minuten Aufenthalt gehabt. Am Bahndamm sah er Frauen und junge Mädchen gebückt, die mit Eisenhacken in den Händen schwere Männerarbeit taten. Sie trugen den gelben Zionsstern an der Brust. Hans schwang sich aus dem Fenster seines Wagens und ging auf die Frauen zu. Die erste in der Reihe war ein junges, abgezehrtes Mädchen, mit schmalen Händen und einem intelligenten, schönen Gesicht, in dem eine große Trauer stand. Hatte er denn nichts bei sich, das er ihr schenken konnte? Da fiel ihm seine ›Eiserne Ration‹ ein, ein Gemisch von Schokolade, Rosinen und Nüssen, und er steckte es ihr zu. Das Mädchen warf es ihm mit einer gehetzten Gebärde vor die Füße. Er hob es auf, lächelte ihr ins Gesicht und sagte: »Ich hätte Ihnen so gerne eine kleine Freude gemacht.« Dann bückte er sich, pflückte eine Margerite und legte sie mit dem Päckchen zu ihren Füßen nieder. Aber schon rollte der Zug an, und mit ein paar langen Sätzen sprang Hans auf. Vom Fenster aus sah er, daß das Mädchen dastand und dem Zug nachblickte, die weiße Margerite im Haar.
    Dann sah er die Augen eines jüdischen Greises, der am Ende eines Menschenzuges zur Zwangsarbeit ging. Es war ein ausgeprägtes Gelehrtengesicht. Ein Leid stand darin, wie Hans es noch nie gesehen hatte. Ratlos griff er nach seinem Tabaksbeutel und drückte ihn dem Alten heimlich in die Hand. Nie würde Hans den jähen Anflug von Glück vergessen, der in diesen Augen erglomm.
    Und dann dachte er an jenen Frühlingstag in einem Heimatlazarett. Einer der Verwundeten sollte entlassen werden, man hatte ihn großartig zusammengeflickt. Aber kurz vor seiner Entlassung begann die Wunde plötzlich wieder zu bluten. Alle Bemühungen waren vergebens. Der Mann verblutete unter den Händen der Ärzte. Erschüttert ging Hans hinaus. Da begegnete er auf dem Gang der jungen Frau des Verbluteten, die ihren Mann abholen wollte, selig vor Erwartung, mit einem bunten Blumenstrauß in den Armen.
    Wann endlich, wann erkannte der Staat, daß ihm nichts höher sein sollte als das bißchen Glück der Millionen kleiner Menschen? Wann endlich ließ er ab von Idealen, die das Leben vergaßen, das kleine, alltägliche Leben? Und wann sah er ein, daß der unscheinbarste, mühseligste Schritt zum Frieden für den einzelnen wie für die Völker größer war als gewaltige Siege in Schlachten?
    Hans’ Gedanken wanderten zum Vater ins Gefängnis.
    Als Hans im Spätherbst 1942 mit seinen Freunden aus Rußland heimkehrte, war auch der Vater wieder in Freiheit.
    Die Erlebnisse an der Front und in den Lazaretten hatten Hans und seine Freunde reifer und härter gemacht. Sie hatten ihnen noch eindringlicher und klarer die Notwendigkeit gezeigt, diesem Staat mit seinem furchtbaren

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