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Die Weiße Ordnung

Titel: Die Weiße Ordnung
Autoren: L. E. Modesitt
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»Hüaah!«
    Der Lastenkarren rollte quietschend in die Mühle und Cerryl sprang hinterher, um die Sägespäne aus der Führungsbahn der Tür zu fegen, bevor Brental den Karren zurückführte.
    Viental lockerte seine breiten Schultern und schwang die Arme im Kreis. »Ganz schön schwer.« Er grinste Cerryl an, wobei gelbe Zähne aus dem rötlich braunen Bart hervorblitzten. »Glaubst du, dass du auch einmal so einen Stamm heben wirst, Mühlenjunge?«
    Cerryl schüttelte den Kopf.
    »Gut, dass du dir da keine falschen Hoffnungen machst. Nur einer unter Hunderten kann so schwer heben wie ich.«
    »Aber auch nur einer unter Hunderten ist so kahlköpfig wie du«, rief der Holzkutscher, der neben dem Leitpferd stand.
    »Rinfur … dich habe ich noch nie bei den Stämmen gesehen.«
    »Ich habe dich auch noch nie bei den Gespannen gesehen. Dazu muss man nämlich schlauer sein als die Pferde.«
    »Eines Tages werde ich dir mit deiner eigenen Zunge den Hals stopfen.«
    Der Fuhrmann grinste. »Nicht, solange ich schneller rennen und besser reiten kann als du.«
    Viental zuckte mit den Schultern und grinste. »Und besser reden.«
    »Geh doch zu deiner Schwester«, zog ihn Rinfur kameradschaftlich auf. »Das tust du doch sowieso, so oft es dir gefällt.«
    »So? Keiner ist so stark wie ich.«
    Cerryl und Rinfur tauschten Blicke aus. Viental verschwand öfter für ein paar Tage, und wenn er zurückkam, behauptete er, dass er seiner Schwester hatte helfen müssen. Dylert bezahlte ihn zwar nicht für diese Zeit, aber er schimpfte auch nicht.
    »Das weiß sogar der Mühlenjunge, stimmt’s Cerryl?«
    »Keiner ist so stark wie Ihr«, stimmte Cerryl zu.
    »Siehst du?«
    Rinfur überprüfte weiter die Pferdegeschirre.
    Cerryls Augen wanderten hinauf zum Haus und zu den Bäumen dahinter. Sie trugen bereits ihr graues Blätterwerk und die Wolken lasteten auf ihnen, während sie auf den Winter mit seinen Schneefällen und kalten Regengüssen warteten. Ein Windstoß fuhr in die Blätter am Boden, hob sie hoch und ließ sie wieder fallen.
    Der Mühlenjunge runzelte die Stirn. Warum verloren die Bäume in jedem Herbst nur die Hälfte der Blätter? Niemand hatte ihm das bisher erklären können, alle speisten ihn mit sinnlosen Sätzen ab: »So ist das nun mal, Junge. Das war schon immer so.«
    Doch für seinen Geschmack gab es zu viele Dinge, die schon immer so gewesen waren.
    Beim nächsten Windstoß schauderte Cerryl, nicht wegen der Kälte, sondern wegen der Vorahnung des kalten Regens, der noch vor Einbruch der Nacht einsetzen würde. Seine Augen blickten noch einmal zum Hügel hinauf.
    Hinter dem Haus tauchte Erhana einen Eimer in den Brunnen. Cerryl lächelte. Nach vielen Übungen mit Spiegelscherben und flachem Wasser konnte er nun die Bilder von Menschen auch ohne diese Hilfsmittel sehen.
    Er musste nur sehen, zuerst mit den Sinnen und dann mit den Augen; Erhana trug den Wassereimer vom Brunnen die Stufen hinauf zur Veranda, vorsichtig bei jedem Schritt.
    »Fang jetzt besser an zu fegen«, sagte Viental. »Dylert kommt aus dem Schuppen zurück.« Cerryl packte den Besen und fegte.

 
VI
     
    B eim ersten Glockenschlag lugte Cerryl zwischen seinen Decken hervor, er zitterte. Die Atemluft bildete weiße Wolken vor seinem Mund.
    »Dunkelheit«, murmelte er. Cerryl bewegte sich nicht, um nur ja keine kalte Luft unter die Decken zu lassen. Die Wände aus dicken Bohlen zeigten keine Risse, die Tür schloss einwandfrei und auch das Fenster war fest geschlossen – festgefroren, so nahm Cerryl an. Aber in seiner winzigen Kammer gab es keinen Ofen, nicht einmal einen Bettwärmer; Dylert hatte ihn am Abend zuvor allerdings mit zwei angewärmten Ziegelsteinen ins Bett geschickt.
    Wieder ertönte die Glocke.
    Cerryl schälte sich aus den Decken und zitterte vor Kälte am ganzen Körper. Seine steifen Füße sträubten sich davor, in die Stiefel gezwängt zu werden. Dann zog er die schon oft geflickte Jacke aus Segeltuch und Leder an, die ihm Nall genäht hatte. Es wurde immer schwieriger, sie vorne zuzuknöpfen. War er so viel gewachsen während des Herbstes und Frühwinters?
    Er hob die zwei Wärmeziegel – die nun erkaltet waren – aus dem Bett und steckte sie sich unter den Arm. Dann öffnete er die Tür, trat hinaus und schloss sie rasch wieder, damit die wenige Wärme in der Kammer nicht auch noch verloren ging. Neben dem Pfad, der hinüber zur Mühle und dann hinauf zum Haus führte, lag der Schnee knietief. Er funkelte, obwohl so kurz
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