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Die Weiße Ordnung

Titel: Die Weiße Ordnung
Autoren: L. E. Modesitt
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Schuppen war einst das Arbeitsgerät der Bergarbeiter aufbewahrt worden. Geräuschlos sprang der Junge aus dem schützenden Schatten in die Spätnachmittagssonne und lief mit nackten Füßen über den steinigen Untergrund zu dem kleinen graubraunen Hügel, der aus Steinen und Schlacke errichtet worden war.
    Er kniete nieder und wischte die dünne Staubschicht fort, unter der sich die Scherbe eines Spiegels verbarg. Sie war kaum größer als die Hälfte seiner Handfläche. Mit zwei Fingern zog er die Scherbe aus dem Schmutz und legte sie auf einen zerbrochenen gelben Ziegelstein. Er drehte sich zum Haus um, doch die Tür blieb geschlossen und die vordere Veranda leer. Das Kind warf einen Blick auf die anderen Halden und die verlassenen Übertagebauten; nichts rührte sich, allein das sommerlich braune Gas wiegte sich in der heißen Nachmittagsbrise.
    Eine Eidechse huschte aus dem Loch, aus dem der Junge den zerbrochenen Ziegelstein genommen hatte. Mit Erleichterung stellte er fest, dass das Tier einen breiten braunen Streifen auf dem gelbbraunen Rücken trug. Als die Echse hinter einem faustgroßen Schlackenstück verschwand, lächelte er. Seine Augen wanderten zurück zum Echsenloch, doch es blieb bei der einen.
    Der heiße Wind fuhr in sein sauberes, aber ärmelloses, zerlumptes Hemd, als er sich an den flacheren Hang der Schlackenhalde kauerte und gespannt in die Spiegelscherbe starrte. Seine blassgrauen Augen verengten sich zu Schlitzen. Das Lichtrechteck blitzte auf. Silberschwaden waberten über dem Spiegel und verdichteten sich zu einem weißen Nebel. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Jungen und verschwand wieder, als er die Lippen aufeinander presste und sich auf den sonderbaren Spiegel konzentrierte.
    »Cerryl! Geh von dem Spiegel weg!« Eine dicke Frau mit einem Besen in der Hand trat auf die Veranda aus Lehm und Stein hinter dem Jungen.
    Cerryl bewegte sich nicht, er konnte seinen Blick nicht von dem Bild lösen, das nach und nach im Spiegel sichtbar wurde. Seine Lippen formten ein stummes ›Oh‹ und seine Augen blickten gebannt auf einen blitzenden weißen Turm, der über einen grünen Park wachte.
    Schwere Schritte knirschten auf der Erde und der Junge wurde aus seiner Versunkenheit gerissen; er schreckte auf, als die breitschultrige Gestalt in fleckiger grauer Hose und Tunika plötzlich vor ihm stand.
    »Wie hast du das gefunden … aber das ist auch gar nicht wichtig.« Die breite Hand der Frau packte den Jungen an der Schulter und zog ihn weg vom Spiegel. Der Stiefel an ihrem rechten Fuß zermalmte knirschend das Glas. Nur ein Häuflein blinkender Staub blieb übrig von dem Fenster, das Cerryl einen sagenhaft schönen weißen Steinturm gezeigt hatte. Unvergossene Tränen brannten in seinen Augen.
    »Gläser und Spiegel – das sind die Werkzeuge des Chaos und des Bösen! Hab ich dir das nicht schon hundert Mal gesagt?« Mit der freien Hand strich sich Nall eine graue Strähne aus der Stirn, ihre Augen wichen jedoch nicht von Cerryl.
    Cerryls schmale Schultern hingen schlaff herunter, seine grauen Augen trafen ihre und sahen auf zu einer Frau, die mehr als doppelt so groß war wie er und viel stämmiger gebaut als die meisten Schafzüchter und Bauern in der Gegend von Hrisbarg. »Es war doch nur eine kleine Scherbe, Tante Nall.«
    »Eine kleine Scherbe. Genauso gut könnte ich von einer kleinen Krustenechse sprechen – ein Biss, eine Scherbe, das reicht aus, um dich umzubringen, Junge.« Nall holte tief Luft. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass dich Spiegel und andere glänzende Sachen nichts angehen?«
    »Sehr oft«, gab Cerryl mit leiser Stimme zu, seine Augen blickten noch immer der Tante ins Gesicht.
    »Du wirst uns noch alle ins Grab bringen.«
    »Ich wollte doch nur helfen«, sagte Cerryl. »Man kann Dinge finden mit diesem schimmernden Glas. Du hast selbst erzählt, dass Papa das auch gesagt hat.«
    »Immer dein Papa.« Nall schüttelte den Kopf. »Ich mag arm sein, aber arm bedeutet nicht zugleich böse und die schimmernden Gläser sind böse. Du weißt doch, wohin das deinen Papa gebracht hat.« Sie warf einen Blick auf die Haustür, die im leichten Wind hin und her schwang. »Du kommst jetzt mit mir, bevor die Suppe überkocht.«
    »Ja, Tante Nall«, sagte Cerryl artig, seine Stimme klang jedoch weder reuevoll noch entschuldigend.
    »Ach, Kind …« Nall seufzte. »Zurück ins Haus mit dir.«
    Cerryl ging über den trockenen und staubigen Boden einen Schritt hinter seiner
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