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Die weise Frau

Die weise Frau

Titel: Die weise Frau
Autoren: Philippa Gregory
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wirst uns noch alle zum Glaubensverhör bei Pater Stephen bringen. Du bist eine Närrin, ihn so offen zu zeigen. Gib ihn mir oder versteck ihn, so daß man ihn nicht finden kann.«
    Ruths weißes Gesicht war von Trauer verzerrt. »Es ist alles, was ich noch für sie tun kann!« schluchzte sie. »Alles, was ich noch tun kann. Sie hat mich mit ihrem Gerede angewidert, aber ich hab sie ertrinken lassen. Sie ist in Sünde gestorben, ich muß für ihre Seele beten. Ich muß Kerzen für sie anzünden und eine Messe für sie lesen lassen. Sie ist in tiefer Sünde gestorben, ich muß ihre Seele retten, wenn ich kann.«
    »Kein Mensch glaubt mehr an dieses Zeug«, sagte Alys verbissen. Ruths ausgestreckte Hand auf dem Sarg mit dem Rosenkranz, den sie so fest umklammerte, hatte etwas unglaublich Rührendes. »Pater Stephen sagt, daß nichts davon wahr ist.« Alys erinnerte sich an das Dämmerlicht in der Kapelle und die langen Nächte der Totenwache nach dem Tod einer Nonne. Die beruhigenden Melodien der Totenmesse und der heilige Duft des Weihrauchs. Das Kerzenlicht und Mutter Hildebrandes heiteres Gesicht in der Gewißheit eines ewigen Lebens.
    Alys packte den Rosenkranz und versuchte, ihn aus Ruths Hand zu ziehen. »Keiner glaubt mehr daran«, sagte sie brutal. »Bete stumm, oder du bringst uns alle in Gefahr!«
    Ruth ließ nicht locker. »Ich werde für Mylady beten, wie es sich geziemt! Ich halte ihr die Treue! Ich gebe ihr, was ihr zusteht!«
    Alys zog, bis die Schnur in ihre Handfläche einschnitt. Dann riß der Rosenkranz mit einem plötzlichen Ruck, und die Perlen fielen einzeln auf den Steinboden der Kapelle, hüpften und tanzten in alle Richtungen und rollten unter die Bänke. Die anderen stöhnten entsetzt, Ruth stieß einen Schrei aus, fiel auf die Knie und versuchte, sie einzusammeln.
    »Oh, mein Gott«, sagte Alys verzweifelt.
    Sie verließ mit der Schnur, den restlichen Perlen und dem baumelnden Kreuz die Kapelle, ehe Ruth protestieren konnte. Ihre Schritte hallten durch den Raum, und ihr Kleid raschelte an den Bänken. Alys schritt hocherhobenen Hauptes dahin, und ihre Finger umklammerten den zerrissenen Rosenkranz so fest, daß die Schnur eine rote Schwiele eingegraben hatte, als sie vor dem Eingang der Kapelle stehenblieb und sich das kleine Holzkreuz ansah. Ihr kam es vor, als wäre ein ganzes Leben verstrichen, seit sie selbst die Perlen durch ihre Finger hatte gleiten lassen, die Gebete gesprochen und das kleine Kreuz geküßt. Jetzt entriß sie sie einer betenden Frau, um sie einem Mann zu überreichen, der ein Feind des Glaubens ihrer Kindheit war und der Inquisitor ihrer Mutter. Alys' Gesicht spiegelte ihre Hoffnungslosigkeit wider, als sie den Rosenkranz einem der Soldaten am Tor reichte.
    »Bring das zu Pater Stephen«, sagte sie. »Sag ihm, hier gibt es keine Ketzerei! Ich habe der betenden Frau den Rosenkranz weggenommen.«
    Er nickte und wandte sich ab.
    »Er wird beim alten Lord sein«, sagte Alys.
    Der Mann schüttelte den Kopf. »Er ist in den Kerkerturm gegangen«, sagte er. »Er hat mir gesagt, daß ich ihn dort finden kann. Er will nochmal die alte Frau verhören, die heute nachmittag vor Gericht gestellt wird, und versuchen, sie zu überreden, daß sie ihren Irrtum bereut.«
    Alys wurde noch blasser und mußte leicht schwanken. »Ja«, sagte sie. »Durch den Schock über den Tod von Mylady hatte ich das vergessen. Soll die alte Frau immer noch vor Gericht gestellt werden? Wird die Verhandlung nicht vertagt, wegen der Trauer um Lady Catherine?«
    Der Mann schüttelte den Kopf. »Es sind zu viele Leute deswegen in die Stadt gekommen. Es kann nicht verschoben werden«, sagte er. »Der alte Lord sagt, es findet statt. Pater Stephen glaubt, er kann die alte Frau zur Vernunft bringen, so Gott will.«
    Alys nickte und wandte sich ab. »Bitte, lieber Gott«, murmelte sie leise. Die Worte waren ohne Bedeutung. Sie hatte ihnen ihre Bedeutung geraubt, jeden Tag seit jener Nacht, als das flackernde Licht des brennenden Klosters sie geweckt hatte. »Bitte, lieber Gott«, sagte Alys, wohl wissend, daß sie keinen Gott mehr hatte, auf den sie vertrauen konnte. Wohl wissend, daß die Götter, denen sie jetzt diente, schrecklich schnell und zuverlässig reagierten — aber daß nichts sie befriedigen konnte.
    In der Damengalerie mußten sie sich gegenseitig mit dunklen Kleidungsstücken aushelfen, dunklen Ärmeln, dunklen Unterröcken und dunklen Hauben. Alys ging an Catherines Kleidertruhe und fand ein
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