Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die weise Frau

Die weise Frau

Titel: Die weise Frau
Autoren: Philippa Gregory
Vom Netzwerk:
in der Hitze und das laute Klirren, wenn sie von einem durch die Luft fliegenden Kerzenleuchter oder einem Silberteller zertrümmert wurden. Auf der anderen Seite der Tür hörte ich den Fluß über die Steine plätschern. Er wies mir den Weg zurück in die Welt, wie der ausgestreckte Finger meines ganz persönlichen Teufels.
    Es war noch nicht zu spät, ich war noch auf dieser Seite des Tors. Eine Sekunde lang, einen halben Atemzug lang, hielt ich inne, prüfte meinen Mut umzukehren — stellte mir vor, wie ich gegen die Türen hämmerte, Fenster zerbrach, nach meiner Mutter, Mutter Hildebrande, rief und nach meinen Schwestern und wie ich mich allem, was da kommen würde, stellen würde, an ihrer Seite, Hand in Hand mit ihr, umgeben von meinen Schwestern.
    Es dauerte kaum einen Herzschlag lang.
    Ich floh durch die kleine Gartentür und schlug sie hinter mir zu.
    Keiner sah mich gehen.
    Nur die Augen Gottes und Seiner Gesegneten Mutter sahen mich. Ich fühlte, wie ihre Blicke sich in meinen Rücken bohrten, als ich meine Röcke hochband und losrannte. Ich rannte weg von der zerstörten Kapelle und der brennenden Abtei, rannte so schnell wie ein Verräter oder ein Feigling. Und im Laufen hörte ich hinter mir einen einzelnen spitzen Schrei, der sofort wieder verstummte. Der Hilfeschrei von jemandem, der zu spät erwacht war.
    Ich blieb nicht stehen — nicht einmal einen kurzen Augenblick. Ich rannte, als ob die Pforten der Hölle sich hinter mir auftaten, und während ich rannte, dachte ich an Kain, den Brudermörder.
    Und ich glaubte, bis ich das Dorf Bowes erreichen würde, hätten mich die Äste der Bäume und die Ranken des Efeus so gepeitscht, daß ich für immer als Kain gebrandmarkt war, verflucht von unserem Herrn.
    Morach wollte gerade zu Bett gehen, da hörte sie ein Geräusch an der Tür ihrer Hütte. Ein armseliges Kratzen, ein leises Winseln, wie von einem gepeitschten Hund. Sie wartete eine ganze Weile. Morach war eine weise Frau, eine Seherin. Viele klopften an ihre Tür auf der Suche nach dunklen Geschenken, und keiner ging enttäuscht von ihr. Die Enttäuschung kam später.
    Morach wartete auf einen Hinweis, wer dieser Besucher sein könnte. Ein Kind? Der Ruf war schwächlich gewesen, wie der eines kränkelnden Kindes. Aber kein krankes Kind, nicht einmal der Balg eines Zigeuners, hätte den Mut, in der Dunkelheit an Morachs Tür zu klopfen. Ein Mädchen mit wachsendem Bauch, das sich fortgeschlichen hatte, während ihr Vater mit den gewalttätigen Händen schlief? Ein Besucher aus einer dunkleren Welt, als Katze verkleidet? Ein Wolf? Ein mißgebildetes, feuchtes Monster?
    »Wer ist da?« fragte Morach, und ihre alte Stimme war scharf wie ein Messer.
    Schweigen. Kein leeres Schweigen, sondern das Schweigen eines Namenlosen.
    »Wie nennt man dich?« fragte Morach. Angst hatte ihren Verstand geschärft.
    »Schwester Ann«, kam die Antwort, leise wie vom Totenbett.
    Morach ging auf die Tür zu, öffnete sie, und Schwester Ann taumelte. Ihr geschorener Kopf glänzte im Kerzenschein, ihre Augen waren schwarz vor Entsetzen und ihr Gesicht rußverschmiert.
    »Bei allen Heiligen!« sagte Morach gelassen. »Was haben sie dir denn jetzt angetan?«
    Das Mädchen schwankte gegen den Türrahmen und stützte sich mit einer Hand ab. »Sie sind vernichtet«, sagte sie. »Mutter Hildebrande, die Schwestern, die Abtei, die Kirche. Alles weg. Niedergebrannt vom jungen Lord.«
    Morach nickte bedächtig und musterte das bleiche, verschmierte Gesicht.
    »Und du?« fragte sie. »Nicht wegen Verrats oder Ketzerei verhaftet? Nicht von den Soldaten, vom jungen Lord Hugo aufgegriffen?«
    »Nein«, sagte sie leise, ihr Atem glich einem Seufzer.
    »Du bist weggerannt«, sagte Morach unverblümt, ohne jedes Mitleid.
    »Ja.«
    »Hat dich jemand gesehen? Ist dir jemand hierher gefolgt? Ist dir einer auf den Fersen, der mich vernichten will, ebenso wie dich und deine heiligen Schwestern?«
    Morach lachte schadenfroh, als wäre ihr diese Nachricht eine besonders boshafte Freude. »Warst zu schnell für sie, was? Zu flink für die fetten Soldaten? Schneller als deine Schwestern, da möchte ich wetten. Du hast sie verbrennen lassen, nicht wahr? Und du hast einfach die Röcke hochgerafft und bist geflohen? Damit kommst du nicht in den heiligen Kalender, meine kleine Märtyrerin! Die Gelegenheit hast du ein für allemal verpaßt!«
    Der Hohn ließ das Mädchen den Kopf beugen. »Darf ich hineinkommen?« fragte Ann demütig.
    Morach wich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher