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Die weise Frau

Die weise Frau

Titel: Die weise Frau
Autoren: Philippa Gregory
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ein Stück zurück und schaute sie mit glänzenden Augen an. »Für länger?« fragte sie freundlich, als wäre die Welt da draußen nicht pechschwarz und als würde kein Wind vom Regen durchs Tal gepeitscht, stetig heftiger in der Dunkelheit.
    Schwester Ann nickte, betäubt vor Erschöpfung.
    »Für immer?« fragte Morach spöttisch.
    Sie nickte wieder. Mit den Rußflecken auf dem kahlen Kopf und im Gesicht sah sie aus wie ein alter Pflugochse.
    »Du willst zurückkommen und hier leben?« fragte Morach noch einmal, es war zu schön, die alte Leier noch einmal durchzukauen.
    Ann hob den Kopf. »Wirst du mich wieder aufnehmen?« fragte sie. »Meine Gelübde sind gebrochen — ich war nicht gehorsam. Ich bin weggelaufen, als die Soldaten kamen — ich bin ein Verräter und ein Feigling. Mein Haus ist zerstört, und meine Schwestern sind tot oder noch schlimmer. Ich bin nichts. Ich bin nichts.«
    Sie verstummte einen Augenblick. »Meine Mutter ist tot«, sagte sie sehr leise. »Mutter Hildebrande, die Äbtissin. Sie wird heute nacht im Paradies sein, im Paradies, mit all ihren Töchtern, mit all ihren wahren Schwestern.« Schwester Ann schüttelte benommen den Kopf. »Hier ist das einzige Zuhause, das ich kenne, außer dem Nonnenkloster. Wirst du mich wieder aufnehmen, Morach?«
    Morach überlegte kurz. Das Mädchen kehrte zurück. Sie hatte es in dem Augenblick, als sie ihr erlaubte, die Schwelle zu überqueren, gewußt. Aber Morach war ein Weib, dessen Kräfte sie dazu verführten, jeden Augenblick voll auszukosten.
    »Vielleicht«, sagte sie nachdenklich. »Du bist jung und stark, und du hast das zweite Gesicht. Du warst mein Wechselbalg, den man mir als Lehrling gegeben hat, und ich hätte dich zur weisen Frau, meiner Nachfolgerin, gemacht, aber du hast dich fürs Kloster entschieden. Ich habe mir keinen Ersatz für dich geholt. Du könntest zurückkommen.« Sie studierte das bleiche, verstockte Gesicht, die klaren Linien der Knochen. »Du bist schön genug, einen Mann zum Wahnsinn zu treiben«, sagte sie. »Du könntest heiraten, oder wir könnten dich an einen Geliebten verkaufen.«
    Schwester Ann hatte den Blick starr zu Boden gerichtet, auf ihre schlammigen Stiefel und die schmutzige Streu. Dann hob sie den Kopf und sah Morach an. Ihre Augen waren nicht schwarz, sondern blau, ein tiefes Blau. »Ich bin die Braut Christi«, sagte sie ohne Umschweife. »Ich kann keinen Mann heiraten. Ich kann keine schwarzen Künste ausüben. Ich weiß nicht wohin. Ich habe mein Gelübde gebrochen, aber ich bin fürs Leben zur Braut Christi geworden. Ich werde ihm gehören, bis zu meinem Tode. Ich werde nie heiraten. Ich werde nie die Künste des Teufels gebrauchen. Ich bin nicht mehr dein Lehrling.«
    Sie wandte ihr Gesicht ab und machte einen Schritt in Richtung Tür. Eine Regenbö peitschte durch die Öffnung und schlug ihr ins Gesicht. Sie blinzelte nicht einmal.
    »Komm rein!« sagte Morach gereizt. »Los, rein hier! Wir werden später darüber reden. Heute nacht kannst du nicht weiter.«
    Ann ließ sich von Morach zu dem kleinen Feuer in der Mitte des Raums führen, wo die eingedämmte Glut unter dem Torf glühte.
    »Schlaf hier«, sagte Morach. »Hast du Hunger? Im Topf ist Haferbrei.«
    Sie schüttelte den Kopf, sank wortlos vor dem Feuer auf die Knie und tastete in ihrem Gewand nach dem Rosenkranz.
    »Schlaf jetzt«, sagte Morach noch einmal und stieg die wacklige Leiter hinauf in den Heuboden, der sich fast über den halben Raum ausdehnte.
    Von dort aus konnte sie das Mädchen beobachten. Eine gute Stunde lang blieb Schwester Ann noch wach, kniete vor dem sterbenden Feuer und betete inbrünstig; ihre Lippen bewegten sich, und sie ließ den Rosenkranz durch die Finger gleiten. Oben, im Schutz eines schmutzigen Knäuels zerrissener Decken, zog Morach einen Beutel geschnitzter weißer Knochen heraus, schüttelte im Licht der rußenden Talgkerze drei auf den Boden und beschwor die Kräfte, die sie besaß, um zu sehen, was aus Schwester Ann, der Nonne, werden würde, jetzt da sie nicht mehr Schwester Ann war.
    Sie legte die Knochen in eine Reihe und starrte sie an, und ihre dunklen Augen wurden schmal vor Vergnügen.
    »Verheiratet mit Lord Hugo!« sagte sie leise. »Oder zumindest so gut wie! Fettes Essen, leichtes Leben.« Sie beugte sich ein wenig weiter herab. »Am Ende Tod«, sagte sie nachdenklich. »Aber der Tod liegt am Ende jeder Straße — und überhaupt hätte sie ja schon heute nacht sterben sollen.«
    Morach
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