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Die weise Frau

Die weise Frau

Titel: Die weise Frau
Autoren: Philippa Gregory
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Händen, ihrem Gewand fest. Sie lernte die saubere Kühle frischer Wäsche auf ihrer Haut zu schätzen, ließ sich ohne einen Funken Reue ihr schmutziges, verlaustes Haar abrasieren und strich sich die gestärkten Falten ihrer Haube ums Gesicht zurecht. Mutter Hildebrande ließ sie Briefe in Latein und Englisch für die Abtei schreiben und träumte davon, sie die Heilige Schrift kopieren und illustrieren zu lassen, eine große neue Bibel für die Abtei. Alys lernte im Gebet zu knien, bis der Schmerz in den Beinen aus ihrem Bewußtsein schwand und sie durch ihre halbgeschlossenen Lider nur noch die schwindelerregenden Farben der Glasfenster mit den Heiligenbildern wahrnahm. Im Alter von vierzehn, nachdem sie den ganzen Tag gefastet und die ganze Nacht gebetet hatte, sah sie, wie die Statue der Heiligen Mutter den gnadenreichen Kopf drehte und sie, Alys, direkt anlächelte. Da wußte sie, wie sie vorher nur zu hoffen gewagt hatte, daß „Unsere Liebe Frau“ sie für eine besondere Aufgabe, eine besondere Lektion auserwählt hatte, und widmete sich ganz einem Leben in Heiligkeit.
    »Laß mich lernen, so wie Mutter Hildebrande zu sein«, flüsterte sie.
    Tom sah sie nur noch einmal. Sie sprach mit ihm durch das kleine Gitter in dem mächtigen Tor, am Tag nachdem sie ihr Gelübde abgelegt hatte. Mit ihrer zarten, klaren Stimme erzählte sie ihm, daß sie jetzt eine Braut Christi sei und nie einem Mann gehören würde. Sie riet ihm, sich eine Frau zu suchen und mit ihrem Segen glücklich zu werden. Und sie schloß die kleine Luke vor seiner überraschten Nase, bevor er ihr etwas zurufen oder ihr den Messingring geben konnte, den er schon seit dem Tag, an dem sie sich als Neunjährige verlobt hatten, in seiner Tasche trug.
    Schwester Ann erschauderte in der kalten Morgenluft und zog ihren Umhang fester zusammen. Sie tauchte den Eimer in den Fluß und schleppte ihn zur Hütte. Morach hatte beobachtet, wie sie am Flußufer vor sich hingeträumt hatte, sagte aber nichts. Sie stolperte die Leiter herunter, setzte sich ans Feuer und bedeutete Schwester Ann, den Topf zu füllen und Wasser heiß zu machen.
    Sie sagte auch nichts, während sie sich ein kleines Stück Brot und den Haferbrei von gestern abend, mit heißem Wasser verlängert, teilten. Dazu gab es einen Becher des sauren, kräftigen Wassers. Es war braun und torfig vom Moor. Schwester Ann achtete darauf, daß ihre Lippen nicht den Rand an der Stelle berührten, wo Morach getrunken hatte. Morachs Augen unter den dichten schwarzen Brauen beobachteten sie, aber sie sagte nichts.
    »Als denn«, sagte sie, nachdem Ann den Becher, den Teller und den Blechlöffel gewaschen und neben den Herd gelegt hatte. »Was wirst du tun?«
    Schwester Ann sah sie an. »Ich muß ein anderes Kloster finden«, sagte sie entschlossen. »Ich habe mein Leben Christus und seiner Geheiligten Mutter gewidmet.«
    Morach versteckte ein Lächeln und nickte. »Ja, kleine Schwester«, sagte sie. »Aber all das diente nicht nur dazu, deinen Glauben auf die Probe zu stellen, andere leiden auch. Alle werden heimgesucht, alle werden verhört. Ihr in Bowes wart dumm genug, euch Lord Hugh und seinen Sohn zum Feind zu machen. Kein Kloster ist mehr sicher. Der König hat ein Auge auf den Reichtum der Klöster geworfen, und euer Gott führt kein offenes Haus mehr. Ich möchte behaupten, daß es im Umkreis von fünfzig Meilen keine Abtei gibt, die es wagen würde, dir ihre Pforten zu öffnen.«
    »Dann muß ich weiter als fünfzig Meilen nach Norden, nach Durham, wenn es sein muß, oder nach York, in den Süden.
    Ich habe mein Gelübde abgelegt. Ich kann nicht in der Welt leben.«
    Morach stocherte mit einem Holzstift aus dem Korb mit Kienspänen in ihren Zähnen herum und spuckte zielsicher in die Flammen. »Hast du dir schon eine Geschichte ausgedacht?« fragte sie mit unschuldiger Miene.
    Schwester Ann schaute ratlos drein. Schon glänzte die Haut auf ihrem Kopf nicht mehr so stark, ein Flaum hellbrauner Haare zeigte sich bereits wie ein juckender Schatten. Sie rieb sich den Schädel mit einer schmutzigen Hand und hinterließ einen weiteren dunklen Fleck. Vor Müdigkeit lagen ihre dunkelblauen Augen tief in ihren Höhlen. Sie sah so alt aus wie Morach selbst.
    »Wofür sollte ich eine Geschichte brauchen?« fragte sie. Dann erinnerte sie sich an ihre Feigheit. »Oh, Heilige Maria, Mutter Gottes...«
    »Wenn dich einer auf der Flucht gesehen hat, könnte es schwierig werden«, sagte Morach fröhlich. »Ich
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