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Die weise Frau

Die weise Frau

Titel: Die weise Frau
Autoren: Philippa Gregory
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der Herbststürme. Die gurgelnden Löcher, in denen das Wasser im Sommer versickerte, verwandelten sich im Winter in Quellen und Brunnen, brodelnde Strudel, in denen das braune Wasser durch die explosive Kraft der unterirdischen Ströme und aus den steinernen Kellern an die Oberfläche gedrängt wurde.
    »Old Hob ist da unten«, hatte Tom ängstlich mit düsterem Blick gesagt.
    Alys hatte verächtlich schnaubend in die Dunkelheit vor ihnen gespuckt. »Ich habe keine Angst vor ihm!« hatte sie gesagt. »Morach wird schon mit ihm fertig werden!«
    Tom hatte seine Finger mit dem Daumen gekreuzt, das alte Zeichen gegen Hexerei, und war rückwärts aus dem Loch in den Sonnenschein gekrochen. Alys wäre gerne länger geblieben. Sie hatte Tom gegenüber nicht geprahlt, es stimmte. Morach hatte sie aufgezogen, und deshalb fürchtete sie nichts.
    »Bis zum heutigen Tag«, murmelte sie vor sich hin. Sie schaute hinauf in den klaren Himmel und die Sonne, die teilnahmslos auf die Erde niederbrannte. »Oh, Heilige Mutter Gottes...«, begann sie, dann verstummte sie. »Vater unser...« begann sie erneut und verstummte wieder. Dann öffnete sich ihr Mund zu einem stummen Schrei, und sie warf sich auf das kurze, stoppelige Gras des Moores. »Gott steh mir bei!« flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. »Ich habe solche Angst, daß ich nicht beten kann.«
    Ihr kam es vor, als wäre sie in ihrer Verzweiflung sehr lange so dagelegen. Als sie sich aufsetzte und umschaute, war die Sonne weitergezogen — es war schon spätnachmittags, Zeit für das Mittagsoffizium. Alys erhob sich langsam wie eine alte Frau, der alle Knochen weh taten. Sie machte sich mit kleinen, langsamen Schritten auf den Weg den Hügel hinauf, wo die Knospen des ersten Heidekrautes, einem zartlila Dunst gleich, auf den Hängen schimmerten. Ein Kiebitz schrie über ihr und flatterte unweit von ihr zu Boden. Noch höher in der blauen Luft kreiste eine Lerche, rief immer wieder, jede höhere Note begleitet von einem Flügelschlag. Bienen rollten sich trunken unter den ersten Heideblumen, das Moor schwitzte Honig. Alles um das Mädchen herum lebte und gedieh und freute sich an der Wärme des Spätsommers — alles außer Alys, die nur noch Eis in den Adern fühlte.
    Sie stolperte unterm Gehen, die Augen auf den Schafspfad gerichtet. Ab und zu stöhnte sie leise wie ein Tier, das für eine lange, lange Nacht der Finsternis in die Falle gegangen ist. »Wie komme ich je wieder zurück?« fragte sie sich. »Wie soll ich je lernen, es hier auszuhalten?«
    Am Ende des Horizonts, wo das Land in einer weiten Kurve in den endlosen Himmel überging, hielt Alys inne. Da war ein kleiner Steinhaufen, den die Schafhirten errichtet hatten, um den Weg zu markieren. Alys hockte sich auf einen trockenen Stein und wendete ihr Gesicht, eine Maske der Pein, der Sonne zu.
    Nach einigen Augenblicken kniff sie die Augen zusammen und blickte nach Süden. Das Moor war sehr flach, es zog sich bis zum Horizont in zahllosen Grünschattierungen hin, von dunklem üppigen Moos um ein Sumpfloch bis zu blaßgelben, schwachen Gräsern, die auf Stein wuchsen. Die Heidekrautwurzeln und alten Blüten zeigten sich blaßgrau und grün, eine karge Landschaft von besonderer Schönheit, halb Weide, halb Wüste. Die neuen Heidekrauttriebe waren dunkelgrün, die Blüten blaß wie Dunst. Alys kniff die Augen zusammen. Ein Mann ging übers Moor, mit entschlossenem Schritt, ein Plaid über der Schulter. Alys erhob sich leise, bereit die Flucht zu ergreifen. Er sah die Bewegung und rief ihr etwas zu, seine Stimme wurde weggepeitscht vom steten Wind, der selbst an den stillsten Tagen über das Moor blies. Obwohl fluchtbereit, zögerte Alys, da rief er erneut, schwach hörbar:
    »Alys! Warte! Ich bin's!«
    Ihre Hand stahl sich in die Tasche, zu den warmen Perlen ihres Rosenkranzes. »Oh, nein«, sagte sie. Sie setzte sich wieder auf die Steine und wartete auf ihn, beobachtete, wie er über das Moor marschierte.
    Er war kräftiger geworden in den vier Jahren ihrer Abwesenheit. Als sie ins Kloster ging, war er ein Junge gewesen, schlaksig und ungelenk, mit der Schönheit eines Fohlens. Jetzt war er stämmig, untersetzt. Jetzt, da er näher kam, sah sie, daß sein Gesicht rot gegerbt war von Wind und Sonne, entstellt von einem Netz roter Äderchen. Seine Augen, immer noch durchdringend blau, waren starr auf sie gerichtet.
    »Alys«, sagte er. »Ich habe gerade erst gehört, daß du wieder da bist. Ich bin sofort
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