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Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)

Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)

Titel: Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
Autoren: Ian Hamilton
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hielten. Zunächst hatte sie sich damit begnügt und erst nach und nach auch Geldeintreibungen vorgenommen. Dazu benutzte sie sanftere Methoden – sie besaß die Gabe, Menschen zum Reden zu bringen, insbesondere Männer, die sie als höfliche, exotische junge Frau mit leiser Stimme betrachteten, die man nicht ernst nehmen musste. Bemerkten sie ihren Irrtum, war es meist schon zu spät.
    Ava begann mit der Geldeintreibung, weil die angeheuerten Schläger zu weit gingen und Aufträge verpfuschten. Es lag ein schmaler Grat dazwischen, eine Zielperson einzuschüchtern, bis sie tat, was man wollte, und sie derart unter Druck zu setzen, dass sie glaubte, sie sei ohnehin geliefert und könne ebenso gut versuchen, das Geld zu behalten. Ava besaß die Gabe, den goldenen Mittelweg zu gehen. Onkel sagte immer: »Die Menschen tun das Richtige aus den falschen Gründen.« Dieser Satz wurde zu Avas Mantra, und sie bemühte sich immer, das Eigeninteresse der Zielpersonen herauszufinden: die eine Sache, die ihnen wichtiger war als das Geld.
    Onkel sagte ebenfalls gern: »Haben sie das Geld erst einmal in der Tasche, vergessen sie völlig, woher es stammt und wie sie in seinen Besitz gelangt sind. Sie glauben, es gehört ihnen. Du musst sie daran erinnern: Es hat einen rechtmäßigen Besitzer, und es gibt nur eine verhandelbare Option, nämlich die Art, wie sie es wieder zurückgeben.«
    Natürlich klammerten sich trotzdem viele mit allen Mitteln an das Geld. Angebrüllt, beschimpft und bedroht zu werden, gehörte zu Avas Geschäft. Nicht selten brachten die Zielpersonen auch Messer, Feuerwaffen und körperliche Gewalt ins Spiel. In solchen Fällen heuerte Onkel Schläger an. Wenn es um Einschüchterung und körperliche Gewalt ging, wollte er die Oberhand haben. Avas Meinung nach provozierten Schläger eine negative Reaktion. Ein Blick auf Onkels ursprüngliche Truppe, und die Zielperson rüstete sich für die unausweichliche Konfrontation. Gewalt behinderte den Prozess der Schuldeneintreibung nur, denn es machte das Geld zur Nebensache.
    Sie drängte Onkel, auf Schläger zu verzichten oder sie nur einzusetzen, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft waren. Onkels einzige Sorge war die körperliche Gefahr, in der Ava schwebte. »Ich kann allein auf mich aufpassen«, versicherte sie ihm. Und das stimmte.
    Mit zwölf fing sie an, Kampfsportunterricht zu nehmen, und rasch zeigte sich ihr Talent. Sie war schnell, wendig und furchtlos. Nach ein paar Monaten hatte sie alle in der Gruppe überflügelt, sodass ihr Lehrer sie mit den fortgeschrittenen Jugendlichen trainieren ließ; ein Jahr später versetzte er sie in die Erwachsenengruppe. Als sie fünfzehn war, konnte er ihr nichts mehr beibringen. Er nahm sie beiseite und fragte sie, ob sie daran interessiert sei, Bak Mei zu lernen, eine uralte Kunst, in die nur die Besten eingeweiht würden. Es sei eine Geheimlehre, die immer eins zu eins weitergegeben werde, traditionell vom Vater an den Sohn, aber auch vom Meister an den Schüler. In Toronto gebe es einen Lehrer, Großmeister Tang. Der stimmte erst nach mehreren Treffen zu, Ava zu unterrichten. Sie war seine zweite Schülerin, sein erster war ein Jugendlicher namens Derek Liang. Obwohl sie nie gemeinsam trainierten oder gegeneinander kämpften, hatten sie sich im Laufe der Jahre angefreundet.
    Manchmal bat Ava Derek, ihr bei einem Auftrag zu helfen, etwas, worüber sie in Gegenwart anderer Freunde nicht sprachen. Überhaupt hatten Avas Freunde keine genaue Vorstellung von ihrem Beruf. Sie akzeptierten einfach, dass sie hin und wieder für ein paar Tage oder Wochen geschäftlich die Stadt verlassen musste. Ava vermutete sogar, dass ihre Freunde nicht einmal merkten, wenn sie weg war.
    Bak Mei war nach Avas Meinung die perfekte Kampfkunst für Frauen. Es beinhaltete Schläge, die schnell, leicht und kurz, aber ausgesprochen effektiv waren. Man brauchte nur wenig Körperkraft, um eine verheerende Wirkung zu erzielen. Bak-Mei-Attacken richteten sich gegen die empfindlichsten Körperteile, wie die Ohren, die Augen, die Kehle, die Unterarme, die Bauchseite, den Magen und natürlich den Unterleib, um möglichst viel Schaden zu verursachen. Tritte wurden selten oberhalb der Taille platziert. Ava war es nicht leicht gefallen, sich Bak Mei anzueignen. Sie musste lernen, ihre – im Vergleich zu Derek und Meister Tang – unterlegene Körperkraft wettzumachen und ihre Stärken auszubauen: blitzschnelle Reflexe und eine geradezu
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