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Die Wassermuehle

Die Wassermuehle

Titel: Die Wassermuehle
Autoren: Nikola Hahn
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Juliette war Hedis letzte lebende Verwandte; sie wohnte in einer alten Wassermühle im Odenwald und versorgte die Winterfeldts regelmäßig mit eingekochtem Obst und Gemüse aus ihrem großen Garten. Zu Weihnachten strickte sie bunte Socken und verschenkte Kisten voller wurmstichiger Äpfel, die Klaus und die Kinder bis zum Frühjahr in diversen Offenbacher Abfallkörben entsorgten.
    Sascha schob sich den Rest seines dick bestrichenen Toasts in den Mund. Dominique sah ihn böse an. „Das nächste Mal lässt du mir gefälligst was übrig!“
    „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben eben, Schwesterherz.“
    „Doofbacke!“, sagte Dominique und streckte ihm die Zunge heraus.
    * * *
    Es gab Tage, an denen Hedi beim morgendlichen Blick in den Badspiegel lächeln konnte. An solchen Tagen stieg sie pfeifend über Gürtelschnallen, kochte weiche Frühstückseier und nahm Dominiques Nörgeleien als Ausdruck der seelischen Not einer pubertierenden Vierzehnjährigen hin. Es waren Tage, an denen sie den Teppichboden im Wohnzimmer eigentlich noch ganz gut in Schuss, die daraufstehenden Möbel irgendwie gemütlich und die verblassten Abziehbildchen auf den Badezimmerfliesen rührend fand. Heute war kein solcher Tag. Sie stopfte ihre Baumwollbluse in die Jeans, verteilte einen Klecks Creme in ihrem Gesicht und ärgerte sich über die offene Zahnpastatube und den Kamm, der sich in ihrem Haar verhakte.
    Ihr letzter Friseurbesuch war lange her. Sie hatte sich zu einer garantiert haarschonenden Dauerwelle überreden lassen und seitdem das Gefühl, dass sich auf ihrem Kopf ein verfilzter Handfeger breitmachte. Sie warf den Kamm in die unterste Schublade des Badezimmerschranks, kramte nach Haarnadeln und steckte ihre störrischen Locken zusammen. Sie zupfte den Pony ins Gesicht und entdeckte zwei silberne Fäden zwischen den dunklen Strähnen, die sie mit einem energischen Ruck herausriss.
    Es klopfte kurz, und Dominique kam herein. „Ich muss aufs Klo.“
    Hedi warf einen letzten Blick in den Spiegel und ging hinaus. Dominique verriegelte die Tür.
    Aus dem Wohnzimmer drangen Schreie; Schüsse fielen, und es wurde still. Sascha saß auf der Couch und sah zu, wie Arnold Schwarzenegger über zwei Leichen stieg.
    „Herrgott! Kannst du die Kiste nicht wenigstens morgens auslassen?“, sagte Hedi gereizt.
    „Sorry, aber Axel will seinen Film zurück.“
    „Axel?“
    „Einer aus meiner Klasse.“
    Hedi griff nach der DVD-Hülle und schüttelte den Kopf. Unglaublich, was heutzutage für Sechzehnjährige freigegeben wurde. „Räumt den Tisch ab, bevor ihr geht.“
    „Mhm“, sagte Sascha mit verklärtem Blick auf Schwarzeneggers Bizeps.
    Die abgetretenen Holzstufen in dem alten Mietshaus knarrten, als Hedi vom dritten Stock nach unten ging. In der zweiten Etage war alles ruhig, in der ersten schrie das Baby der türkischen Familie. Im Erdgeschoss war wieder einmal die Beleuchtung defekt. Manchmal kam Hedi der Gedanke, dass neue Fenster, einige Eimer Farbe für Fassade und Treppenhaus und eine Fuhre Erde und Pflanzen genügen würden, um aus dem unansehnlichen Gebäude aus der vorletzten Jahrhundertwende samt dem trostlosen Hinterhof ein hübsches Haus zu machen, in dem es sich passabel wohnen ließ. Als sie durch die Hofeinfahrt auf die Straße trat, wehte ihr nieselnder Oktoberregen ins Gesicht. Das fahle Licht der Straßenlaternen färbte die Bäume grau, auf den Autodächern klebte welkes Laub. Der Gehweg war mit Mülltonnen zugestellt. Über den Häusern blinkten die Positionslichter einer Boeing im Landeanflug auf den nahen Rhein-Main-Flughafen; der Lärm war erbärmlich.
    Hedi kämpfte mit ihrem störrischen Regenschirm, der sich nicht öffnen ließ. Zu Fuß schaffte sie den Weg von ihrer Wohnung bis zum Schwesternzimmer in der Chirurgischen Klinik III des Stadtkrankenhauses in zwölfeinhalb Minuten. Mit dem Rad war sie sieben Minuten schneller, vorausgesetzt, es war noch da, wenn sie es brauchte. Und das kam in einem Achtfamilienhaus ohne abschließbaren Fahrradkeller einem Vabanquespiel gleich. Sie hatte es nacheinander mit einem teuren und einem billigen Modell versucht. Das billige hatte sie zwei Tage länger gehabt als das teure und sich dann fürs Laufen entschieden.
    Seit Jahren nahm sie denselben Weg über die Luisenstraße und die Hohe Straße in den Starkenburgring. Sie begann keinen Arbeitstag, ohne dem Pfauenhaus und der Lächelnden Frau im Vorbeigehen einen guten Tag gewünscht zu haben. Hedi hatte nur wenige
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