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Die Wand

Titel: Die Wand
Autoren: Marlen Haushofer
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dann sah ich wieder hin. Der reinliche alte Mann stand noch immer regungslos. Jetzt sah ich auch, daß er sich mit den Knien und der linken Hand auf den Rand des Steintrogs stützte, vielleicht konnte er deshalb nicht umfallen. Neben dem Haus war ein Gärtchen, in dem, neben Pfingstrosen und Herzblumen, Küchenkräuter wuchsen. Es gab dort auch einen mageren, zerzausten Fliederbusch, der schon abgeblüht war. Der April war fast sommerlich warm gewesen, selbst hier im Gebirge. In der Stadt waren auch die Pfingstrosen schon verblüht. Aus dem Kamin stieg kein Rauch auf.
    Ich schlug mit der Faust gegen die Wand. Es schmerzte ein wenig, aber nichts geschah. Und plötzlich hatte ich auch nicht mehr das Verlangen, die Wand zu zerschlagen, die mich von dem Unbegreiflichen trennte, das dem alten Mann am Brunnen widerfahren war. Ich ging sehr vorsichtig zurück über den Bach zu Luchs, der an etwasschnupperte und seinen Schrecken vergessen zu haben schien. Es war ein toter Kleiber, eine Spechtmeise. Sein Köpfchen war zerstoßen und seine Brust mit Blut befleckt. Jener Kleiber war der erste einer langen Reihe kleiner Vögel, die auf diese jämmerliche Weise an einem strahlenden Maimorgen ihr Ende gefunden hatten. Aus irgendeinem Grund werde ich mich immer an diesen Kleiber erinnern müssen. Während ich ihn betrachtete, fiel mir endlich das klagende Geschrei der Vögel auf. Ich mußte es schon lange gehört haben, ehe es mir bewußt wurde.
    Ich wollte plötzlich nur weg von diesem Ort, zurück ins Jagdhaus, weg von dem jämmerlichen Geschrei und den winzigen, blutbeschmierten Leichen. Auch Luchs war wieder unruhig geworden und drängte sich winselnd an mich. Auf dem Heimweg durch die Schlucht blieb er dicht an meiner Seite, und ich sprach ihm beruhigend zu. Ich weiß nicht mehr, was ich zu ihm sagte, es schien mir nur wichtig, die Stille zu brechen, in der düsteren feuchten Schlucht, wo das Licht grünlich durch die Buchenblätter sickerte und winzige Bäche von den nackten Felsen zu meiner Linken rieselten.
    Wir waren in eine schlimme Lage geraten, Luchs und ich, und wir wußten damals gar nicht, wie schlimm sie war. Aber wir waren nicht ganz verloren, weil wir zu zweit waren.
    Das Jagdhaus lag jetzt im hellen Sonnenschein. Der Tau auf dem Mercedes war getrocknet, und das Dach glänzte in einem fast rötlichen Schwarz; ein paar Schmetterlinge gaukelten über die Lichtung, und es fing an, süß nach warmen Fichtennadeln zu riechen. Ich setzte mich auf die Hausbank, und sogleich schien mir alles, was ich in der Schlucht gesehen hatte, ganz unwirklich. Es konnte einfach nicht wahr sein, derartige Dinge geschahen einfachnicht, und wenn sie doch geschahen, nicht in einem kleinen Dorf im Gebirge, nicht in Österreich und nicht in Europa. Ich weiß, wie lächerlich dieser Gedanke war, aber da ich genauso dachte, will ich es nicht verschweigen. Ich saß ganz still in der Sonne und sah den Faltern zu, und ich glaube, eine Zeitlang dachte ich wirklich gar nichts. Luchs, der am Brunnen getrunken hatte, sprang zu mir auf die Bank und legte seinen Kopf auf meine Knie. Ich freute mich über diesen Gunstbeweis, bis mir einfiel, daß dem armen Hund ja keine andere Wahl blieb.
    Nach einer Stunde ging ich in die Hütte und wärmte das restliche Reisfleisch für Luchs und mich, dann kochte ich Kaffee, um einen klaren Kopf zu bekommen, und rauchte dabei drei Zigaretten. Es waren meine letzten Zigaretten. Hugo, der ein starker Raucher war, hatte versehentlich vier Päckchen in der Manteltasche ins Dorf mitgenommen, und er war auch noch nicht dazu gekommen, den Zigarettenvorrat für die nächste Nachkriegszeit im Jagdhaus einzulagern. Nachdem ich die drei Zigaretten geraucht hatte, hielt ich es nicht länger im Haus aus und ging nochmals mit Luchs in die Schlucht zurück. Der Hund folgte mir ohne Begeisterung und hielt sich dicht an meinen Fersen. Ich lief fast den ganzen Weg und hielt atemlos inne, als der Scheiterstoß auftauchte. Dann ging ich langsam mit ausgestreckten Händen weiter, bis ich die kühle Wand berührte. Obgleich ich doch gar nichts anderes hatte erwarten können, war diesmal der Schock viel heftiger als beim erstenmal.
    Der Bach war noch immer gestaut, aber das Rinnsal auf der anderen Seite war ein wenig breiter geworden. Ich zog die Schuhe aus und schickte mich an, das Wasser zu durchwaten. Diesmal folgte mir Luchs zögernd und widerwillig. Er war nicht wasserscheu, aber der Bachwar eiskalt und reichte ihm bis zum Bauch. Es
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