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Die Wand

Titel: Die Wand
Autoren: Marlen Haushofer
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fortfahren im rasanten Tempo unserer angebeteten Technik, der guten alten Mutter Erde demnächst einen Nekrolog widmen können. Die Autorin weiht mit dem Buch ein imaginäres Museum ein, in dem Brüderlichkeit, Gleichheit, Kreatürlichkeit, Bäume, Tiere zu besichtigen sind, für den Tag nach der Stunde X. Marlen Haushofer konnte damals, 1963, mit dem Roman nicht reüssieren. Das war bitter, denn solch einen Text schreibt man nur einmal, und man schreibt ihn nicht einfach nieder, seinen Inhalt muß man antizipiert haben im eigenen Dasein. Das Werk, von dem die Dichterin sagt, es habe »am wenigsten Mühe gekostet«, läuft heute Gefahr, zur Kultfibel für oberflächliche Konsumenten zu werden.
     
    Marlen Haushofer variiert immer wieder Ur-Situationen des Menschen, fließend sind dabei die Grenzen zwischen Traum, Trauma und Tatsachen. Alle ihre Figuren sind von ihr abgespaltene Persönlichkeiten. Ein typisches Beispiel dafür ist der Band von 1968 ›Schreckliche Treue‹ (ein programmatischer Titel), in dem unbesiegbare Aggressionen jeden und alles bedrohen. Da sind die biederen Eheleute, die sich plötzlich dabei ertappen, daß sie sich gegenseitig ins Grab wünschen, da ist das Kind, das seelisch verkümmert, nachdem es eine verrückt gewordene Greisin erlebt, die sich im Suizid erlöst, und da ist der ältere Herr, der sich ängstigt, weil die Frauen seiner Generation robuster sind als er, vitaler. Von den Extremen war sie angezogen, den äußeren Belastungen hat sie sich ausgesetzt, um sie dann, meisterhaft überhöht, als Endzeitvisionen zu schildern: ohne weithergeholte Worte, ohne eine gestelzte Wendung.
    Die solche Geschichten schrieb, bereute kaum etwas und fürchtete niemanden mehr. So wie es war, war es zwar nicht gut, aber anders konnte es wohl nicht sein, weil die besten Ideen meist verfälscht werden, sobald die Menschen, die für die Dichterin »nicht böse waren, sondern nur desorientiert«, von ihnen Besitz ergreifen. So lautete ihr Credo. Damit war Selbstbehauptung angezeigt und nicht Selbstbetrug. In Gesellschaft schwieg sie ausgiebig und gerne, und wenn sie dann etwas sagte, formulierte sie zögernd, als wolle sie unterstreichen, das wahre Wesen unseres Seins sei auch bei noch größerer Anstrengung nicht zu entschlüsseln. Allein schon deshalb ist es schade um ein verschollenes Manuskript mit dem Sujet, von dem sie sich nicht trennen konnte: die Geschlechter-Krise. Während eines Festes stoßen Frauen, nach einem diabolischen Plan, einen Mann in eine Schlucht. Schluß. Punkt. Aus. Weil die Tat nicht gesühnt wird, hat ihr jemand den Roman ausgeredet. Seitdem sind die zweihundert Seiten spurlos verschwunden.
     
    Geachtet vom Kulturbetrieb, geschätzt von den Kollegen, mehrfach geehrt, unter anderem mit dem Arthur-Schnitzler-Preis und dem Großen Staatspreis für Literatur in Österreich, schreibt sie, seit 1968 bereits vom Tod umstellt, ihren letzten Roman ›Die Mansarde‹: unnachahmliche Gleichnisse vom isolierten Menschen und der conditio humana, mit somnambuler Sicherheit in der Form, von Trauer grundiert. Manchmal mag sie deprimiert oder enttäuscht gewesen sein, gleichgültig war sie nie; nur erschöpft, wie nach einer langen Reise.
    Marlen Haushofer hatte Krebs, doch sie erwähnte ihre Krankheit nicht. Lange bettlägerig, wäre sie wohl gerne, noch einmal wenigstens, zurückgekehrt an die Orte ihrer Kindheit – auf die Haidenalm etwa oder zur Lackenhütteim Sengsengebirge – beide verewigt in ›Die Wand‹. Aus diesen Ausflügen wären dann bestimmt neue Bücher geworden, große Literatur, die für sie der Ernstfall war, Ersatz für ein Leben, das sie so nicht geliebt hat und aus dem sie ausgestiegen wäre und anderes gemacht hätte, wenn . . . Doch genau davon erzählt sie ja in ihren Romanen, in denen das Leben zur Kunst wird und ihre Kunst zum Lebenswerk.
     
    Marlen Haushofer, die sich mit dem Schreiben »selber eine Freude bereitete«, starb am 21. März 1970 im Alter von fünfzig Jahren, ein Abschied ohne Bedauern, sachlichentrückt: fixiert in ihrem geistigen Vermächtnis, luzid ob seiner Erkenntnis und Selbsterkenntnis:
    »Mach dir keine Sorgen. Du hast zuviel und zuwenig gesehen, wie alle Menschen vor dir. Du hast zuviel geweint, vielleicht auch zuwenig, wie alle Menschen vor dir. Vielleicht hast du zuviel geliebt und gehaßt – aber nur wenige Jahre – zwanzig oder so. Was sind schon zwanzig Jahre ? Dann war ein Teil von dir tot, genau wie bei allen Menschen, die nicht
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