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Die Wand

Titel: Die Wand
Autoren: Marlen Haushofer
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natürlich noch immer süß. Ich ließ sie auf der Zunge zergehen und dachte an alle vergangenen Süßigkeiten. Ich muß lächeln, wenn ich daran denke, wie der Held in einem Abenteuerroman die Stöcke der wilden Bienen plündert. In meinem Wald gibt es keine wilden Bienen, und wenn es sie geben sollte, würde ich nie wagen, ihre Stöcke zu plündern, sondern ganz weit weggehen von ihnen. Ich bin aber auch kein Held und kein findiger Bursche. Ich werde nie lernen, mit zwei Stöcken einen Funken zu reiben oder einen Feuerstein aufzufinden, denn ich würde ihn nicht erkennen. Ich kann nicht einmal Hugos Feuerzeug reparieren, obgleich ich Feuersteine und Benzin besitze. Ich kann ja nicht einmal eine anständige Tür für den Kuhstall zimmern. Und gerade das geht mir immer im Kopf herum.
    Den Rest des August blieb ich auf der Alm, immer ein wenig behindert durch die schmerzenden Beine. Aber die Spaziergänge mit Luchs hatte ich doch wiederaufgenommen, weil ich, wenn ich untätig auf dem Bett lag, zuviel denken mußte. Ich fing schon an, mich auf die Übersiedlung zu freuen, der Sommer war mir nur wie ein Zwischenspiel erschienen.
    Am zehnten September ging ich noch einmal ins Tal, um die Erdäpfel zu jäten. Sie standen besonders schön. Auch die Bohnen hatten sich sehr vermehrt. Es hatte wenige Gewitter gegeben und keine Stürme und Überschwemmungen. Diesmal ließ ich Stier und Bella auf der Weide. Das schöne Wetter verführte mich dazu, den beiden diesen Sonnentag nicht zu stehlen.
    Gegen fünf Uhr erreichte ich die Alm. Plötzlich, ich konnte die Hütte noch gar nicht richtig sehen, stutzte Luchs und rannte dann mit wütendem Gebell über die Wiese. Ich hatte ihn noch nie auf diese Weise bellen gehört, grollend und haßerfüllt. Ich wußte sofort, daß etwas Schreckliches geschehen war. Als die Hütte mir nicht mehr die Sicht verdeckte, sah ich es. Ein Mensch, ein fremder Mann stand auf der Weide, und vor ihm lag Stier. Ich konnte sehen, daß er tot war, ein riesiger graubrauner Hügel. Luchs sprang den Mann an und schnappte nach seiner Kehle. Ich pfiff ihn gellend zurück, und er gehorchte und blieb grollend und mit gesträubtem Fell vor dem Fremden stehen. Ich stürzte in die Hütte und riß das Gewehr von der Wand. Es dauerte ein paar Sekunden, aber diese paar Sekunden kosteten Luchs das Leben. Warum konnte ich nicht schneller laufen? Noch während ich auf die Wiese rannte, sah ich das Aufblitzen des Beils und hörte es dumpf auf Luchs' Schädel aufschlagen.
    Ich zielte und drückte ab, aber da war Luchs schon tot.
    Der Mann ließ die Axt fallen und sank, in einer sonderbaren kreiselnden Bewegung, in sich zusammen. Ich beachtete ihn gar nicht, als ich neben Luchs hinkniete. Ich konnte keine Verletzung sehen, nur aus seiner Nase tropfte ein wenig Blut. Stier war schrecklich zugerichtet; sein Schädel, von vielen Hieben gespalten, ruhte in einer großen Blutlache. Ich trug Luchs zur Hütte undlegte ihn auf die Bank. Er war plötzlich klein und leicht geworden. Und dann hörte ich wie aus weiter Ferne Bellas Gebrüll. Sie stand an die Stallwand gepreßt und war außer sich vor Furcht. Ich führte sie in den Stall und versuchte, sie zu beruhigen. Erst dann fiel mir der Mann wieder ein. Ich wußte, daß er tot sein mußte, er war ein so großes Ziel gewesen, ich hätte ihn gar nicht verfehlen können. Ich war froh, daß er tot war; es wäre mir schwergefallen, einen verletzten Menschen töten zu müssen. Und am Leben hätte ich ihn doch nicht lassen können. Oder doch, ich weiß nicht. Ich drehte ihn auf den Rücken. Er war sehr schwer. Ich wollte ihn gar nicht deutlicher sehen. Sein Gesicht war sehr häßlich. Seine Kleider, schmutzig und verkommen, waren aus teurem Stoff und von einem guten Schneider genäht. Vielleicht war er ein Jagdpächter wie Hugo oder einer jener Anwälte, Direktoren und Fabrikanten, die auch Hugo so oft eingeladen hatte. Was immer auch er gewesen sein mochte, jetzt war er nur tot.
    Ich wollte ihn nicht auf der Wiese liegenlassen; nicht neben dem toten Stier und im unschuldigen Gras. So faßte ich ihn an den Beinen und schleifte ihn zum Aussichtsplatz. Dort, wo der Felsen steil in die Geröllhalde abfällt und im Juni Alpenrosen blühen, ließ ich ihn hinunterrollen. Stier ließ ich liegen, wo er lag. Er war zu groß und schwer. Im Sommer wird sein Gebein auf der Wiese bleichen, Blumen und Gräser werden durch ihn hindurchwachsen, und ganz langsam wird er in die regenfeuchte Erde
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