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Die Wand

Titel: Die Wand
Autoren: Marlen Haushofer
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es hinter mir ließ. Ich durfte nicht versuchen, die alte Trauer künstlich am Leben zu erhalten. Die Umstände meines früheren Lebens hatten mich oft gezwungen zu lügen; jetzt aber war längst jeder Anlaß und jede Entschuldigung für eine Lüge weggefallen. Ich lebte ja nicht mehr unter Menschen.
    Anfang Juni war ich endlich so weit, daß ich mich an die Alm gewöhnt hatte, aber es wurde nie mehr wie im vergangenen Jahr. Jener erste Sommer auf der Alm war unwiederbringlich dahin, und ich wollte keine schwächere Wiederholung und hielt mich absichtlich davor zurück, dem alten Zauber aufs neue zu verfallen. Aber die Alm machte es mir nicht schwer, sie hatte sich vor mir verschlossen und zeigte ein fremdes Gesicht.
    Es gab weniger zu tun als im Vorjahr, weil die Butter- und Fetterzeugung wegfiel. Bella gab wenig Milch, und Stier mußte endlich anfangen, nur Wasser zu trinken. Bella gab gerade genug Milch für den täglichen Bedarf, und ich war wieder dazu übergegangen, das bißchen Butter mit der Schneerute zu schlagen. Arme Bella, wenn nicht bald ein Wunder geschah, würde sie nie mehr ein Kalb haben.
    Oft saß ich, wie vor einem Jahr, auf der Hausbank und sah über die Wiese hin. Sie war nicht anders als damals, und sie roch ebenso süß, aber ich geriet nie mehr in das alte Entzücken darüber. Ich sägte fleißig mein Fallholz, und es blieb mir viel Zeit, um mit Luchs in den Wald zu gehen. Ich unternahm aber keine großen Ausflüge mehr, denn ich hatte schon im letzten Sommer meine Grenzen gezogen. Es war mir gleichgültig geworden, wo die Wand verlief, und ich hatte keine Lust, noch zehn weitere verfallene Holzknechthütten zu finden, in denen es nach Mäusen roch. Die Brennesseln würden jetzt auch schon durch die geborstenen Türen in die Hütten eingedrungen sein und in jeder Ritze wuchern. Lieber ging ich nur so zu meiner Freude mit Luchs durch den Wald. Es war besser für mich, als untätig auf der Bank zu sitzen und über die Wiese hinzuschauen. Das gleichmäßige Dahingehen auf den alten Pfaden, die schon anfingen zuzuwachsen, besänftigte mich immeraufs neue, und vor allem war es eine tägliche Freude für Luchs. Jeder Ausflug war für ihn ein großes Abenteuer. Ich redete damals sehr viel mit ihm, und er verstand fast alles, was ich sagte, dem Sinn nach. Wer weiß, vielleicht verstand er auch schon mehr Wörter als ich dachte. In jenem Sommer vergaß ich ganz, daß Luchs ein Hund war und ich ein Mensch. Ich wußte es, aber es hatte jede trennende Bedeutung verloren. Auch Luchs hatte sich verändert. Seit ich mich soviel mit ihm befaßte, war er ruhiger geworden und schien nicht dauernd zu befürchten, ich könnte mich, sobald er fünf Minuten wegging, in Luft auflösen. Wenn ich heute darüber nachdenke, glaube ich, daß dies die einzige große Angst seines Hundelebens war, allein zurückgelassen zu werden. Ich hatte auch eine Menge dazugelernt und verstand fast jede seiner Bewegungen und Laute. Jetzt endlich herrschte zwischen uns ein stillschweigendes Verstehen.
    Am achtundzwanzigsten Juni, als ich gegen Abend mit Luchs aus dem Wald zurückkam, sah ich, wie Stier Bella bestieg. Ich hatte gar nickt mehr darauf geachtet, daß sie in der Nacht gebrüllt hatte. Als ich die beiden großen Geschöpfe vor dem rosigen Abendhimmel miteinander verschmelzen sah, glaubte ich zu wissen, daß es diesmal ein Kalb geben würde. So mußte es geschehen, auf einer großen Wiese, vor dem Abendhimmel, ohne die Einmischung eines Menschen. Ich weiß noch heute nicht sicher, ob ich recht hatte. Jedenfalls hörte von da an Bella auf, nach Stier zu verlangen, und Stier beschäftigte sich nur noch damit, möglichst viel süßes Gras in seinen großen, starken Leib hineinzustopfen, in der Sonne zu dösen oder im Galopp über die Wiesen zu fliegen. Er war ein außergewöhnlich schönes und kräftiges Tier und ganz gutartig. Manchmal legte er seinen Schädel schwer auf meine Schulter und schnaufte vorBehagen, wenn ich seine Stirn kraulte. Vielleicht wäre er später wild und mürrisch geworden. Damals war er nur ein riesiges Kalb, zutraulich, verspielt und immer auf gutes Fressen aus. Ich glaube, er war nicht so klug wie seine Mutter, aber es war ja auch nicht seine Lebensaufgabe, klug zu sein. Es war zum Lachen, wie er sogar Luchs gehorchte, der gegen ihn nur ein kläffender Zwerg schien.
    Heute glaube ich, daß Bella doch ein Kalb bekommen wird. Sie gibt mehr Milch als im Herbst, und sie ist entschieden dicker geworden. Wenn
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