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Die Wall Street ist auch nur eine Straße

Die Wall Street ist auch nur eine Straße

Titel: Die Wall Street ist auch nur eine Straße
Autoren: Jim Rogers
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daraus.
    »Und was wissen die von England, die nur England kennen?«, schrieb ­Rudyard Kipling in »The English Flag«.
    Ich hatte immer das Gefühl, zu vielen Leuten in Yale nicht recht zu passen, weil sie viel gereist waren. Es war immer meine Leidenschaft gewesen, mehr von der Welt zu wissen und zu sehen. Ein paar Jahre zuvor hatte ich meiner damaligen Freundin Janet Corley von dieser Sehnsucht erzählt. »Ich bin 16 Jahre alt«, klagte ich, »und ich war wirklich noch nirgends.« Die welterfahrene Janet zeigte mir ihr Mitgefühl: »Ich bin 16 und war schon an vielen Orten«, meinte sie. »Ich war in Birmingham, in Mobile, in Montgomery, in Tuscaloosa …«
    Um meinen Horizont zu erweitern, bewarb ich mich für verschiedene Stipendien in Übersee. Als Leute auf den Campus kamen, die Absolventen für ihre Unternehmen suchten, hatte ich schon ein akademisches Stipendium aus Yale, um Philosophie, Politik und Wirtschaftswissenschaften am Balliol College in Oxford zu studieren. Das war meine Chance, ins Ausland zu gehen, und bot den zusätzlichen Vorteil, dass ich nun zwei weitere Jahre Zeit hatte, mich zu entscheiden, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. (Und im Geheimen hegte ich die Fantasie, als Steuermann an der legendären Bootsregatta zwischen Oxford und Cambridge teilzunehmen.) Ich war schon ganz begierig auf die Abreise. Nun brauchte ich nur noch einen Job für den Sommer.
    Dominick & Dominick Inc., eine der ältesten privaten Investmentfirmen in den USA war in Yale massiv auf der Suche nach neuen Mitarbeitern. Sie war eine von mehreren Firmen, mit denen ich auf dem Campus Bewerbungsgespräche vereinbarte. Bei den anderen Unternehmen hatte ich nicht viel Erfolg, aber mit Joe Caccioti von Dominick & Dominick verstand ich mich gleich hervorragend. Er war in den Straßen der Bronx aufgewachsen und hatte es irgendwie nach Harvard geschafft; ich war in der hintersten Provinz Alabamas aufgewachsen und hatte es irgendwie nach Yale geschafft. Wir schienen viel gemeinsam zu haben – mit einer wichtigen Ausnahme: Dominick & Dominick suchte Vollzeitkräfte.
    »Ich kann bei Ihnen keinen Vollzeitjob annehmen«, sagte ich ihm. »Aber im Sommer würde ich sehr gern für Sie arbeiten.«
    Dominick & Dominick, 1870 gegründet und eines der älteren Mitglieder der New York Stock Exchange, tauchte in der Regel nicht in jedem Frühjahr in Yale auf, um dort nach Aushilfskräften für den Sommer zu suchen. Aus irgendwelchen Gründen – wahrscheinlich auf Joes Drängen hin – machte die Firma in meinem Fall eine Ausnahme, und im Sommer 1964 begann ich, an der Wall Street zu arbeiten.
    Als ich im Herbst nach Oxford aufbrach, wusste ich ganz genau, was ich für den Rest meines Lebens tun wollte.
    EHE ICH DORTHIN GING, wusste ich über die Wall Street nur, dass sie irgendwo in New York lag und dass dort 1929 etwas Schlimmes passiert war. Ich wusste nicht, dass es einen Unterschied zwischen Aktien und Anleihen gab, und schon gar nicht, worin dieser Unterschied bestand. Ich hatte keinen blassen Schimmer von Währungen oder Rohstoffen. Ich bezweifle, dass ich damals wusste, dass der Kupferpreis an diesen Märkten stieg und sank.
    In diesem ersten Sommer bei Dominick & Dominick arbeitete ich in der Researchabteilung und beantwortete telegrafische Fragen von Brokern: Zahlt General Motors eine Dividende, und wenn ja, wie viel? Ich blühte auf, wenn ich Informationen ausgrub. Ich arbeitete auch im Handelsraum, wo die Firma als Market Maker für verschiedene Aktien agierte, die nicht an der New York Stock Exchange notiert waren. Dabei handelte es sich um den OTC-Handel in der Zeit, als es die NASDAQ noch nicht gab. Ich lernte viel darüber, wie die Märkte auf der Basis von Transaktionen wirklich funktionieren.
    Einmal fragte mich das führende Vorstandsmitglied, wo ich zur Schule gegangen war. Ich antwortete, ich sei in Yale gewesen. Er sagte: »Gut, wir wollen hier nämlich nicht zu viele Rotbäuche und Tigerjungs haben.« Damit meinte er die Absolventen von Harvard und Princeton. Als ich ihm begegnete, nutzte ich die Gelegenheit zur Frage, ob ich Wirtschaft studieren sollte. Er sagte: »Dort wird man Ihnen nichts Nützliches beibringen. Kommen Sie hierher, verkaufen Sie Sojabohnen leer, nur einmal, dann lernen Sie viel mehr über die Märkte, als wenn Sie zwei Jahre mit einem Studium verschwenden.«
    Es war ein aufregender Sommer. Ich sah die Welt auf eine Weise, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Plötzlich waren meine Studien der
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