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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Autoren: Joël Dicker
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Der Ursprung des Übels . Das ist traurig, denn wenn man mir mit dreißig gesagt hätte, dass ich den Zenit bereits erreicht habe, hätte ich mich wahrscheinlich ins Meer gestürzt. Also immer schön mit der Ruhe.«
    »Bereuen Sie es, dass Sie dieses Buch geschrieben haben?«
    »Ein bisschen vielleicht … Ich weiß es nicht. Reue ist ein Begriff, den ich nicht mag: Er bedeutet nämlich, dass wir nicht zu dem stehen, was wir getan haben.«
    »Was soll ich denn jetzt machen?«
    »Was Sie schon immer am besten gekonnt haben: schreiben. Und wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Marcus: Machen Sie es nicht wie ich. Wir beide sind uns ausgesprochen ähnlich, wissen Sie, und deshalb beschwöre ich Sie: Wiederholen Sie nicht die Fehler, die ich begangen habe.«
    »Welche Fehler?«
    »Als ich im Sommer 1975 hierherkam, wollte ich auch unbedingt ein Meisterwerk schreiben. Ich war von der Idee und dem Wunsch besessen, ein berühmter Schriftsteller zu werden.«
    »Und Sie haben es geschafft …«
    »Sie verstehen nicht: Gewiss, heute bin ich ein ›großer Schriftsteller‹, wie Sie es nennen, aber ich lebe allein in diesem riesigen Haus. Mein Leben ist leer, Marcus. Lassen Sie nicht zu, dass der Ehrgeiz Sie auffrisst. Sonst wird Ihr Herz einsam und Ihre Feder traurig. Warum haben Sie eigentlich keine Freundin?«
    »Weil ich keine finde, die mir wirklich gefällt.«
    »Ich glaube eher, dass Sie es mit dem Vögeln genauso halten wie mit dem Schreiben: entweder Ekstase oder nichts. Suchen Sie sich ein anständiges Mädchen, und geben Sie der Kleinen eine Chance. Und mit Ihrem Buch machen Sie es genauso. Geben Sie sich selbst eine Chance! Geben Sie Ihrem Leben eine Chance! Wissen Sie, was meine Hauptbeschäftigung ist? Möwen füttern. Ich sammle trockenes Brot in der Blechschachtel, der aus der Küche mit der Aufschrift SOUVENIR AUS ROCKLAND, MAINE , und das werfe ich den Möwen hin. Sie sollten nicht immer nur schreiben …«
    Trotz der Ratschläge, die Harry mir erteilte, ließ mir ein Gedanke keine Ruhe: Was war bei ihm, als er in meinem Alter gewesen war, der Auslöser gewesen? Welcher Geistesblitz hatte es ihm erlaubt, Der Ursprung des Übels zu schreiben? Ich war wie besessen von dieser Frage, und da Harry mir sein Arbeitszimmer überlassen hatte, nahm ich mir die Freiheit, ein wenig darin herumzustöbern. Nie hätte ich mir vorstellen können, was ich entdecken würde! Alles begann damit, dass ich auf der Suche nach einem Stift eine Schublade aufzog und darin ein handgeschriebenes Heft und ein paar lose Blätter fand: Originale von Harry. Wie aufregend! Hier bot sich mir die unverhoffte Gelegenheit herauszufinden, wie Harry arbeitete, ob es in seinem Heft von Streichungen wimmelte oder ob er einfach wirklich ein Genie war. Begierig machte ich mich in seiner Bibliothek auf die Suche nach weiteren Manuskripten. Um freie Bahn zu haben, musste ich jedoch warten, bis Harry außer Haus war; also auf den Donnerstag, da unterrichtete er in Burrows: Er brach frühmorgens auf und kehrte in der Regel erst am späten Abend zurück. So kam es am Nachmittag des 6. März 2008 zu einer Begebenheit, die ich augenblicklich wieder zu vergessen beschloss: Ich fand heraus, dass Harry im Alter von vierunddreißig Jahren eine Affäre mit einem fünfzehnjährigen Mädchen gehabt hatte. Das war im Jahr 1975 gewesen.
    Ich kam seinem Geheimnis auf die Spur, als ich hemmungslos die Regale in seinem Arbeitszimmer durchforstete und dabei hinter ein paar Büchern auf eine große Lackschachtel mit Klappdeckel stieß. Ich witterte Beute, vielleicht sogar das Manuskript von Der Ursprung des Übels . Also nahm ich die Schachtel und öffnete sie, doch zu meinem großen Verdruss enthielt sie kein Manuskript, sondern lediglich ein paar Fotos und Zeitungsartikel. Die Fotos zeigten einen jungen Harry, einen flotten Dreißiger: elegant, stolz, neben sich ein junges Ding. Vier oder fünf Fotos waren es insgesamt, und auf allen war dieses Mädchen zu sehen. Auf einem posierte Harry mit nacktem Oberkörper, braun gebrannt und muskulös am Strand: Er drückte das lächelnde Mädchen an sich; die Kleine hatte sich die Sonnenbrille in ihr langes, blondes Haar geschoben, um es zurückzuhalten, und küsste ihn auf die Wange. Auf der Rückseite des Fotos stand: Nola und ich, Martha’s Vineyard, Ende Juli 1975 . Vor lauter Aufregung über meinen Fund merkte ich nicht, dass Harry viel früher als erwartet vom College zurückkam. Ich hörte weder die knirschenden Autoreifen
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