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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Autoren: Joël Dicker
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außergewöhnliches Jahr werden sollte) hatte bei den Republikanern einige Tage zuvor Senator McCain das Rennen gemacht, während bei den Demokraten noch immer der Kampf zwischen Hillary Clinton und Barack Obama tobte. Ich fuhr ohne Pause bis Aurora durch. Der Winter war schneereich, und unterwegs zogen tiefweiße Landschaften an mir vorbei. Ich liebte New Hampshire.
    Ich liebte die Ruhe dort, die riesigen Wälder, die von Seerosen bedeckten Teiche, in denen man im Sommer schwimmen und auf denen man im Winter Schlittschuh laufen konnte, und ich mochte die Vorstellung, dass man hier weder Mehrwert- noch Einkommenssteuer zahlte. In meinen Augen war New Hampshire ein libertärer Staat, und sein in die Kennzeichen der mich auf der Autobahn überholenden Fahrzeuge eingeprägtes Motto FREI LEBEN ODER STERBEN umriss sehr gut das starke Freiheitsgefühl, das mich bei jedem meiner Aufenthalte in Aurora durchdrungen hatte. Und ich erinnere mich noch gut, wie mich bei meiner Ankunft in Goose Cove an diesem kalten, nebligen Nachmittag plötzlich ein Gefühl tiefen inneren Friedens überkam. Harry erwartete mich, in eine dicke Winterjacke gehüllt, unter dem Portalvorbau seines Hauses. Als ich aus dem Wagen stieg, kam er mir entgegen, legte mir die Hände auf die Schultern und schenkte mir ein breites, ermutigendes Lächeln.
    »Was ist los mit Ihnen, Marcus?«
    »Ich weiß es nicht, Harry …«
    »Na, na, Sie waren schon immer ein viel zu sensibler junger Mann.«
    Noch bevor ich meine Sachen auspackte, machten wir es uns im Wohnzimmer bequem, um uns ein wenig zu unterhalten. Er schenkte uns Kaffee ein. Im Kamin knisterte ein Feuer. Im Inneren des Hauses war es gemütlich, während ich durch die riesige Panoramascheibe den von eisigen Winden aufgepeitschten Ozean sah und den nassen Schnee, der auf die Felsen fiel.
    »Ich hatte vergessen, wie schön es hier ist«, murmelte ich.
    Er nickte. »Ich werde mich gut um Sie kümmern, mein junger Freund, Sie werden sehen. Sie werden uns hier einen Mordsroman zusammenschreiben. Machen Sie sich keinen Kopf, alle guten Schriftsteller durchlaufen mal solche schwierigen Phasen.«
    Er hatte diese gelassene, zuversichtliche Art, wie ich sie seit jeher von ihm kannte. Ich hatte diesen Mann noch nie zweifeln sehen. Charismatisch und selbstsicher, strahlte er eine natürliche Autorität aus. Obwohl er auf die siebenundsechzig zuging, war er mit seiner vollen, silbergrauen, stets gepflegten Mähne, den breiten Schultern und dem kräftigen Körper, dem man das jahrelange Boxen ansah, eine eindrucksvolle Erscheinung. Harry war Boxer, und durch diese Sportart, die ich selbst fleißig praktizierte, hatten wir uns am Burrows College angefreundet.
    Meine Verbundenheit mit Harry, auf die ich in diesem Buch noch eingehen werde, war sehr tief. Er war im Jahr 1998 in mein Leben getreten, als ich ein Studium am Burrows College in Massachusetts aufgenommen hatte. Damals war ich zwanzig, er siebenundfünfzig gewesen. Seit nunmehr fünfzehn Jahren hatte er damals der literarischen Fakultät dieser bescheidenen Provinzhochschule mit ihrer gemütlichen Atmosphäre und netten, höflichen Studentenschar goldene Zeiten beschert. Bis dahin hatte ich den großen Schriftsteller Harry Quebert nur dem Namen nach gekannt. In Burrows begegnete ich »Harry«, kurz und knapp. Trotz des Altersunterschieds sollte er einer meiner engsten Freunde werden und mir das Schreiben beibringen. Er selbst hatte die höheren Weihen Mitte der 1970er-Jahre empfangen, als sich sein zweites Buch, Der Ursprung des Übels , fünfzehn Millionen Mal verkaufte und ihm sowohl den National Book Award als auch den National Literary Award, die beiden angesehensten Literaturpreise des Landes, einbrachte. Seither publizierte er in regelmäßigen Abständen und schrieb eine viel beachtete monatliche Kolumne im Boston Globe . Er zählte zu den Galionsfiguren der amerikanischen Intelligenzija, hielt zahlreiche Vorträge und war ein gefragter Gast bei den wichtigeren kulturellen Veranstaltungen. Seine Meinung in politischen Fragen hatte Gewicht. Er genoss hohes Ansehen, war der Stolz seines Landes und zählte zum Besten, was Amerika hervorzubringen imstande war. In den Wochen, die ich bei ihm verbringen wollte, würde es ihm hoffentlich gelingen, wieder einen Schriftsteller aus mir zu machen und mir zu zeigen, wie ich mich aus dieser kreativen Sackgasse herausmanövrieren konnte. Ich musste allerdings feststellen, dass Harry meine Lage zwar schwierig, aber
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