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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Autoren: Joël Dicker
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Übels .
    Ich kannte diese Plakette seit jeher, hatte ihr aber nie wirklich Beachtung geschenkt. Erst bei diesem Aufenthalt begann ich mich näher für sie zu interessieren und betrachtete sie lange. Schon bald gingen mir die ins Metall gravierten Worte nicht mehr aus dem Kopf: An diesem armseligen, von Fett und Ahornsirup klebrigen Tisch im Diner einer Kleinstadt von New Hampshire hatte Harry also gesessen und sein gewaltiges Meisterwerk verfasst, das ihn zu einer literarischen Legende gemacht hatte. Woher hatte er die Inspiration genommen? Auch ich wollte mich an diesen Tisch setzen, schreiben und darauf warten, dass mich ein Geistesblitz traf. Also ließ ich mich zwei Nachmittage in Folge mit Papier und Stift daran nieder – doch vergebens. Schließlich fragte ich Jenny: »Er hat sich also hier an diesen Tisch gesetzt und geschrieben?«
    Sie nickte. »Den ganzen Tag, Marcus, den lieben langen Tag. Pausenlos. Das war im Sommer 1975, daran erinnere ich mich noch gut.«
    »Und wie alt war er damals?«
    »So alt wie du. Um die dreißig. Vielleicht ein paar Jahre älter.«
    In mir wallte ein grimmiger Wunsch auf: Auch ich wollte ein Meisterwerk verfassen, auch ich wollte ein Buch schreiben, das Maßstäbe setzte. Harry begriff das, als er feststellte, dass ich nach fast einmonatigem Aufenthalt bei ihm keine Zeile zu Papier gebracht hatte. Die folgende Szene spielte sich Anfang März in seinem Arbeitszimmer in Goose Cove ab, in dem ich immer noch auf die göttliche Erleuchtung wartete, als er, mit einer Schürze um den Bauch, hereinkam und mir ein paar eigenhändig frittierte Donuts brachte.
    »Geht’s voran?«, erkundigte er sich.
    »Das wird der ganz große Wurf«, behauptete ich und reichte ihm den Papierstapel, den mir der kubanische Gepäckträger drei Monate zuvor hinterhergetragen hatte.
    Er stellte das Tablett ab, um einen Blick darauf zu werfen: »Sie haben nichts geschrieben? Sie sind seit drei Wochen hier und haben nichts geschrieben?«
    Ich fuhr aus der Haut: »Nein, nichts! Jedenfalls nichts Brauchbares! Nur Ideen für einen schlechten Roman.«
    »Herrgott, Marcus! Wollen Sie einen Roman schreiben oder nicht?«
    Ich erwiderte, ohne nachzudenken: »Ein Meisterwerk! Ich will ein Meisterwerk schreiben!«
    »Ein Meisterwerk?«
    »Ja. Ich will einen großartigen Roman mit großartigen Ideen schreiben! Ich will ein Buch schreiben, das Eindruck macht.«
    Harry musterte mich kurz und brach dann in Gelächter aus. »Ihr übertriebener Ehrgeiz geht mir auf die Nerven, Marcus, das sage ich Ihnen schon seit einer Ewigkeit. Sie werden ein ganz großer Schriftsteller, davon bin ich überzeugt. Aber wollen Sie wissen, was Ihr Problem ist? Sie haben es viel zu eilig! Wie alt sind Sie jetzt?«
    »Dreißig.«
    »Dreißig! Und Sie wollen schon jetzt eine Kreuzung aus Saul Bellow und Arthur Miller sein? Der Ruhm wird schon kommen, immer schön mit der Ruhe. Ich bin jetzt siebenundsechzig, und manchmal wird mir angst und bange, weil die Zeit so schnell vergeht. Jedes Jahr, das vergeht, ist ein Jahr weniger, und ich kann es nicht zurückholen. Was haben Sie geglaubt, Marcus? Dass Sie Ihr zweites Buch einfach so raushauen können? Eine Schriftstellerlaufbahn braucht ihre Zeit, mein Freund. Und um einen großen Roman zu schreiben, braucht man keine großartigen Ideen. Seien Sie einfach nur Sie selbst, dann schaffen Sie es bestimmt, da mache ich mir bei Ihnen keine Sorgen. Ich unterrichte seit fünfundzwanzig Jahren Literatur, seit fünfundzwanzig langen Jahren, und Sie sind der klügste Kopf, der mir dabei untergekommen ist.«
    »Danke.«
    »Danken Sie mir nicht, es ist schlicht und einfach die Wahrheit. Aber jammern Sie nicht wie ein altes Waschweib, weil Sie den Nobelpreis noch nicht bekommen haben. Himmel noch mal, mit dreißig! Also, wirklich! Schlagen Sie sich das mit dem großen Roman aus dem Kopf. Einen Nobelpreis für den größten Schwachsinn haben Sie verdient!«
    »Aber wie haben Sie es angestellt, Harry? Ihr Buch Der Ursprung des Übels aus dem Jahr 1976 ist ein Meisterwerk! Dabei war es erst Ihr zweites Buch … Wie haben Sie das gemacht? Wie schreibt man ein Meisterwerk?«
    Er lächelte traurig.
    »Marcus, Meisterwerke schreibt man nicht, sie entstehen einfach. Außerdem existiert für viele Menschen nur dieses eine Buch von mir. Damit will ich sagen, dass keines von denen, die darauf gefolgt sind, auch nur annähernd so erfolgreich war. Im Zusammenhang mit mir denken die Leute sofort und nahezu ausschließlich an
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