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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Autoren: Joël Dicker
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Harry.«
    Das war alles, was ich über Nola Kellergan erfuhr. Wir sprachen nie wieder über sie, auch nicht über die Schachtel, und ich beschloss, diesen Vorfall für immer in den Tiefen meines Gedächtnisses zu vergraben, nicht ahnend, dass uns Nolas Geist wenige Monate später durch eine seltsame Fügung abermals erscheinen sollte.
    Ende März kehrte ich nach New York zurück, nachdem ich es auch in den sechs Wochen in Aurora nicht geschafft hatte, meinen nächsten großen Roman aus der Taufe zu heben. Nur noch drei Monate bis zum Ende der Frist, die Barnaski mir gesetzt hatte, und mir war klar, dass ich keine Chance mehr hatte, die Sache zu retten. Ich hatte mir die Flügel verbrannt, mein Untergang war besiegelt, ich war der unseligste und unproduktivste aller New Yorker Paradeautoren. Während die Wochen vergingen, arbeitete ich mit Feuereifer daran, meine Niederlage vorzubereiten: Ich verschaffte Denise eine neue Anstellung, nahm Kontakt zu Anwälten auf, falls Schmid & Hanson tatsächlich gegen mich vor Gericht zog, und erstellte eine Liste der Dinge, an denen ich am meisten hing und die ich bei meinen Eltern verstecken musste, bevor die Gerichtsvollzieher an meine Tür klopften. Als der Juni anbrach, der Schicksalsmonat, der Monat des Schafotts, begann ich die Tage bis zu meinem Tod als Künstler zu zählen: dreißig kurze Tage noch, dann eine Einbestellung in Barnaskis Büro und schließlich die Exekution. Der Countdown hatte begonnen. Ich konnte nicht ahnen, dass ein dramatisches Ereignis das Blatt wenden sollte.

30.
    Der Fabelhafte
    »Ihr zweites Kapitel ist sehr wichtig, Marcus. Es muss Biss haben und die Leser umhauen.«
    »Und wie geht das, Harry?«
    »Das ist wie beim Boxen. Sie sind Rechtshänder, aber in der Deckungsposition ist immer Ihre linke Faust vorn. Nach Ihrer ersten Geraden ist Ihr Gegner angeschlagen, und schon kommt Ihre kraftvolle Rechte und haut ihn um. Genau so muss Ihr zweites Kapitel sein: eine Rechte gegen den Unterkiefer Ihrer Leser.«

Es geschah am Donnerstag, den 12. Juni 2008. Ich hatte den Vormittag zu Hause verbracht und im Wohnzimmer gelesen. Draußen war es heiß, aber es regnete: Seit drei Tagen ging ein lauwarmer Sprühregen auf New York nieder. Gegen dreizehn Uhr erhielt ich einen Anruf. Ich hob das Telefon ab, und zunächst kam es mir so vor, als wäre niemand am anderen Ende der Leitung. Dann vernahm ich ein unterdrücktes Schluchzen.
    »Hallo? Hallo? Wer ist da?«, fragte ich.
    »Sie … Sie ist tot.«
    Obwohl seine Stimme kaum zu hören war, erkannte ich ihn sofort.
    »Harry? Sind Sie das, Harry?«
    »Sie ist tot, Marcus.«
    »Wer ist tot?«
    »Nola.«
    »Was ist passiert?«
    »Sie ist tot, und es ist alles meine Schuld. Marcus … Was habe ich nur getan? Verdammt, was habe ich getan?«
    Er weinte.
    »Harry, was reden Sie da? Was wollen Sie damit sagen?«
    Er legte auf. Sofort rief ich ihn zurück, aber er nahm nicht ab. Auch auf seinem Handy erreichte ich ihn nicht. Ich versuchte es noch ein paarmal und hinterließ auf seinem Anrufbeantworter mehrere Nachrichten, doch ich hörte nichts mehr von ihm. Ich machte mir große Sorgen. Da konnte ich noch nicht wissen, dass Harry mich vom Hauptquartier der State Police in Concord angerufen hatte. Ich hatte keine Ahnung, was vor sich ging, bis gegen sechzehn Uhr Douglas anrief. »Du meine Güte, Marc, hast du es schon mitgekriegt?«, schrie er heiser.
    »Mitgekriegt? Was?«
    »Schalt den Fernseher an, verdammt! Es geht um Quebert! Harry Quebert!«
    »Um Quebert? Was ist mit ihm?«
    »Mach den Fernseher an, verdammt noch mal!«
    Schnell schaltete ich einen Nachrichtensender ein. Verdutzt erblickte ich auf dem Bildschirm Fotos von Harrys Haus in Goose Cove und hörte den Sprecher sagen: Hier, in seinem Haus in Aurora in New Hampshire, wurde heute der Schriftsteller Harry Quebert verhaftet, nachdem die Polizei auf seinem Grundstück eine Leiche ausgegraben hat. Ersten Ermittlungen zufolge könnte es sich um die sterblichen Überreste von Nola Kellergan handeln, einem Mädchen aus der Gegend, das im August 1975 im Alter von fünfzehn Jahren von zu Hause verschwunden war. Man hatte nie herausgefunden, was ihr zugestoßen war … Plötzlich drehte sich um mich herum alles, und ich ließ mich benommen auf die Couch fallen. Ich verstand überhaupt nichts mehr: weder den Bericht im Fernsehen noch Douglas, der am anderen Ende der Leitung ins Telefon bellte: »Marcus? Bist du noch dran? Hallo? Er hat ein junges Mädchen umgebracht! Er
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