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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Autoren: Joël Dicker
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hat ein junges Mädchen umgebracht!« In meinem Kopf ging es drunter und drüber, es war wie in einem bösen Traum.
    Also erfuhr ich zeitgleich mit dem Rest des schreckensstarren Amerikas, was sich einige Stunden zuvor abgespielt hatte: Am frühen Morgen war eine von Harry bestellte Gartenbaufirma in Goose Cove eingetroffen, um in der Nähe des Hauses große Hortensien einzupflanzen. Beim Graben waren die Gärtner in einem Meter Tiefe auf Menschenknochen gestoßen und hatten unverzüglich die Polizei verständigt. Kurz darauf hatte man ein vollständiges Skelett freigelegt und Harry verhaftet.
    Im Fernsehen jagte ein Bericht den anderen. Abwechselnd gab es Liveübertragungen vom Schauplatz in Aurora und aus Concord, der sechzig Meilen nordwestlich gelegenen Hauptstadt New Hampshires, wo Harry sich derzeit in den Räumen der Kriminalpolizei in Haft befand. Scharen von Journalisten hatten sich schnellstens vor Ort begeben, um die Ermittlungen aus nächster Nähe zu verfolgen. Offenbar gab ein bei der Leiche aufgefundenes Indiz ernsthaften Anlass zu der Vermutung, dass es sich um die Überreste von Nola Kellergan handelte. Ein leitender Polizeibeamter hatte bereits verlauten lassen, dass, sollte sich diese Information bestätigen, Harry Quebert überdies des Mordes an einer gewissen Deborah Cooper verdächtigt würde. Sie war die Letzte gewesen, die Nola am 30. August 1975 lebend gesehen hatte, und war am fraglichen Tag kurz nach ihrem Anruf bei der Polizei ermordet aufgefunden worden. Das alles war absolut haarsträubend. Die Gerüchteküche kochte über, die Nachrichten machten in Echtzeit im Land die Runde, da sie im Fernsehen, Radio, Internet und in den sozialen Netzwerken verbreitet wurden: Der siebenundsechzigjährige Harry Quebert, einer der bedeutendsten Autoren der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, war ein gemeiner Kindermörder.
    Ich brauchte lange, vielleicht mehrere Stunden, um zu begreifen, was da vor sich ging. Als Douglas um zwanzig Uhr besorgt bei mir aufkreuzte, um nachzusehen, ob ich die Nachricht einigermaßen verkraftete, war ich immer noch überzeugt, dass es sich um einen Irrtum handelte. Ich sagte zu ihm: »Wie kann man ihm zwei Morde anlasten, wenn man sich nicht mal sicher ist, dass es sich tatsächlich um die sterblichen Überreste dieser Nola handelt?«
    »Immerhin war in seinem Garten eine Leiche verscharrt.«
    »Aber warum hätte er an einer Stelle graben lassen sollen, an der er angeblich eine Leiche verbuddelt hat? Das ist doch absurd! Ich muss dahin.«
    »Wohin?«
    »Nach New Hampshire. Ich muss Harry verteidigen.«
    Douglas antwortete mit dieser bodenständigen Vernunft, wie sie für Menschen aus dem Mittleren Westen typisch ist: »Bloß nicht, Marc. Fahr nicht dorthin. Lass dich nicht in diesen Sumpf reinziehen.«
    »Aber Harry hat mich angerufen …«
    »Wann? Heute?«
    »Gegen dreizehn Uhr. Ich nehme an, das war der eine Anruf, auf den er ein Recht hat. Ich muss ihm beistehen! Das ist jetzt wichtig.«
    »Wichtig? Wichtig ist dein zweites Buch. Ich hoffe, du hast mich nicht verschaukelt und kriegst das Manuskript wirklich bis Ende des Monats fertig. Barnaski ist drauf und dran, dich fallen zu lassen. Ist dir eigentlich klar, was Harry bevorsteht? Lass dich da nicht reinziehen, Marc, dafür bist du zu jung! Versau dir die Karriere nicht.«
    Ich antwortete nicht darauf. Im Fernsehen war soeben der stellvertretende Staatsanwalt vor ein Heer von Journalisten getreten. Er zählte die Verbrechen auf, die Harry zur Last gelegt wurden: Entführung sowie zweifacher Mord. Harry wurde offiziell angeklagt, Deborah Cooper und Nola Kellergan ermordet zu haben – und darauf stand die Todesstrafe.
    Das war erst der Anfang von Harrys Sturz. Die Bilder von der vorläufigen Anhörung, die am nächsten Tag stattfand, gingen durchs Land: Durch das Auge Dutzender Fernsehkameras sah man, wie Harry im Blitzlichtgewitter der Fotografen in Handschellen und von Polizeibeamten flankiert den Gerichtssaal betrat. Er wirkte sehr mitgenommen: die Miene düster, unrasiert, die Haare zerzaust, der Hemdkragen offen, die Augenlider geschwollen. Benjamin Roth, sein Anwalt, stand neben ihm. Roth war ein angesehener Rechtsbeistand aus Concord, der Harry in der Vergangenheit des Öfteren beraten hatte. Ich kannte ihn flüchtig, weil ich ihm ein paarmal in Goose Cove begegnet war.
    Das Fernsehen, dieses Wunderwerk der Technik, erlaubte es ganz Amerika, die Anhörung live mitzuverfolgen, in der Harry sich in allen
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