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Die Wahrheit über Alice

Die Wahrheit über Alice

Titel: Die Wahrheit über Alice
Autoren: Rebecca James
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von Haaren umflattert. «Hör auf, so eine Memme zu sein. Jetzt kannst
     du mal Mut beweisen. Na los!»
    Sie läuft schnurstracks ins Meer durch die tosenden Brecher, bis ihr das Wasser bis zu den Oberschenkeln reicht, und dann
     taucht sie unter und verschwindet.
    Mick starrt dich an, das Gesicht voller Angst. «Scheiße», sagt er. Und dann rennt er den Hang runter zum Strand. Du folgst
     ihm.
    Ihr steht zusammen am Strand und schreit ihren Namen. «Alice! Alice!»
    «Alice! Wo bist du? Alice!»
    Ihr beide platscht durch den nassen Sand, mit Schuhen, und ihr schreit beide so laut ihr könnt, die Hände als Schalltrichter
     um den Mund gelegt.
    «Die ertrinkt, verdammt. Alice!», schreit er.
    Und dann hörst du es. «Hilfe!» Es ist ganz schwach und kommt von ganz weit entfernt. Es ist windig hier am Wasser, kalt und
     so nass, und die Wellen krachen so unerbittlich. Doch dann hörst du es wieder. «Hilfe!»
    |301| «Dahinten. Alice! Alice! Ich glaub, ich seh sie.»
    Du weißt, was du tun musst. Du weißt aus Erfahrung, was richtig ist. Diesmal wirst du nicht feige kneifen. Du wirst nicht
     weglaufen, du wirst den gleichen Fehler nicht noch einmal machen. Diesmal wirst du Mut beweisen. Du streifst dir die Schuhe
     von den Füßen, wirfst sie beiseite, läufst tiefer ins Wasser hinein und auf die Stimme zu.
    «Katherine!» Er zieht dich zurück, schreit dich an. «Was soll der Scheiß?»
    «Sie ertrinkt», sagst du. «Sie ertrinkt.»
    Er zerrt dich aus dem Wasser und drückt dich nach unten, sodass du auf dem Sand sitzt. «Warte hier!», ruft er. «Warte!» Und
     dann zieht er sich das T-Shirt über den Kopf, Schuhe und Socken aus und stolpert ins Wasser hinein.
    «Nein», sagst du. «Nein. Warte.» Aber es ist zu spät, er läuft weiter, und ehe du ihm noch zurufen kannst, dass er die Jeans
     ausziehen soll, ist er auch schon weg.
    Du springst auf und läufst hinterher, doch es ist so dunkel und das Wasser ist so laut, und er ist auf der Stelle verschwunden.
     Du gehst ins Wasser, langsam, rufst wieder und wieder seinen Namen, weil du nicht weißt, wo er ist und wie du ihn finden sollst.
     Du gehst weiter, bis dir das Wasser an den Oberschenkeln zerrt und du spürst, wie die starke Strömung dich von den Füßen reißen
     will. Du gibst nach und lässt dich in die pechschwarze Tiefe sinken. Und das Wasser ist in deinem Gesicht, deiner Nase, deinem
     Mund. Im Kopf schreist du seinen Namen, wieder und wieder, doch es nützt nichts, denn du kannst ihn nicht finden. Er ist nicht
     zu finden.
    Und dann packt dich jemand und schleift dich mit, tut dir weh, zieht an deinen Haaren. Plötzlich Lichter und Stimmen. Schreie.
    Plötzlich Luft.
     
    |302| Die Nacht verbringst du im Krankenhaus. Deine Brust ist wie zugeschnürt, deine Kehle und die Augen sind wund und schmerzen.
    «Es wird Ihnen bald wieder gutgehen», sagen sie. «Ganz bestimmt. Hundertprozentig.»
    Doch als du seinen Namen rufst, wenden sie sich ab. «Sie waren sehr tapfer», lautet ihre Antwort.
     
    Es wird dir nie wieder gutgehen. Nichts wird je wieder gut werden.
     
    Du berührst seine Wange und ziehst die Hand rasch wieder weg.
    Die Haut der Toten fühlt sich nicht mehr wie Haut an. Sie fühlt sich überhaupt nicht mehr menschlich an. Sie ist kalt und
     hart und leblos. Er ist nicht mehr da. Dieses steife, reglose graue Etwas auf dem Bett ist bloß ein leerer Behälter, eine
     Hülle. Und du hast kein Verlangen, diese bläulichen Lippen zu küssen oder die eiskalte Wange zu berühren. In diesem trostlosen
     Krankenhauszimmer findest du bloß eine kalte und hohle Leere, die nichts erklärt und den Lebenden weder Frieden schenken noch
     Trost geben kann.

|303| 38
    M um und Dad und Micks Eltern räumen zusammen die Wohnung aus. Ich wohne bei Mum und Dad und bleibe dort. Ich liege im Bett,
     tief vergraben unter der Decke. Ich hätte es niemals fertiggebracht, beim Zusammenpacken unseres Lebens, unserer Zukunft,
     unserer Träume mitzuhelfen, und das erwartet auch niemand von mir. Sie arbeiten so zügig, dass sie nicht mal einen Tag brauchen.
     Als meine Eltern wieder zu Hause eintreffen, kommt Mum nach oben und setzt sich zu mir ans Bett.
    «Wir haben Micks Schlagzeug mitgebracht. Und seine Platten. Seine Eltern dachten, du würdest die Sachen vielleicht gern behalten.»
    Ich ertrage den Gedanken an Micks schweigendes Schlagzeug nicht, an all die Musik, die für immer ungespielt sein wird, aber
     ich nicke dankbar, drehe mich dann weg und presse die Hand
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