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Die Wahrheit über Alice

Die Wahrheit über Alice

Titel: Die Wahrheit über Alice
Autoren: Rebecca James
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fange an, meinen Lunch wegzupacken.
    «Moment.» Alice legt eine Hand auf mein Knie. Ich blicke sie so kalt an, wie ich kann, und sie zieht sie wieder zurück. «Ich
     meine es ernst. Ich möchte wirklich, dass du kommst. Und ich finde es super, was du letzte Woche zu Dan gesagt hast. Ich wäre
     echt froh, wenn mir auch mal so was einfallen würde, aber so schlagfertig bin ich einfach nicht. Und ehrlich, ich hätte nie
     im Leben dran gedacht, wie das für die Frau gewesen sein muss. Das ist mir erst klargeworden, als ich mitgekriegt habe, wie
     du Dan zur Schnecke gemacht hast. Ich meine, du warst toll, was du gesagt hast, war total richtig. Du hast ihn als den Idioten
     bloßgestellt, der er ist.»
    Ich weiß sofort, wovon Alice spricht – das einzige Mal, wo ich nicht aufgepasst, mich einen Augenblick lang vergessen habe.
     Ich lege mich nicht mehr mit anderen an. Im Gegenteil, ich gebe |13| mir alle Mühe, das in meinem täglichen Leben zu vermeiden. Aber das Benehmen von Dan Johnson und seinen Freunden vor einer
     Woche fand ich derart widerlich, dass ich mich nicht mehr beherrschen konnte.
    Unsere Schule hatte eine Berufsberaterin eingeladen, die uns etwas über unsere Chancen auf dem Arbeitsmarkt und über die Zulassungsbedingungen
     für die Uni erzählen sollte. Zugegeben, der Vortrag war langweilig, wir hatten das alles schon zigmal gehört, und die Frau
     war nervös, stotterte herum und redete konfuses Zeug. Je lauter und unruhiger ihre Zuhörer wurden, desto mehr geriet sie aus
     dem Konzept. Aber Dan Johnson und seine fiese Clique nutzten das aus. Sie führten sich dermaßen gemein und respektlos auf,
     dass die Frau schließlich in Tränen ausbrach und gedemütigt das Weite suchte. Nach der Veranstaltung tippte ich Dan im Flur
     von hinten auf die Schulter.
    Dan drehte sich mit einem blasierten, selbstgefälligen Gesichtsausdruck um. Er erwartete offensichtlich Bewunderung für sein
     Benehmen.
    «Ist dir eigentlich klar», begann ich mit überraschend lauter, zorniger Stimme, «wie sehr du diese Frau verletzt hast? Das
     ist ihr Leben, Daniel, ihr Beruf, ihr berufliches Ansehen. Mit deinem erbärmlichen Schrei nach Aufmerksamkeit hast du sie
     zutiefst gedemütigt. Du tust mir leid, Daniel, du musst dich schon verdammt traurig und winzig fühlen, wenn du das Bedürfnis
     hast, jemanden so niederzumachen, jemanden, den du nicht mal kennst.»
    «Du warst super», fährt Alice fort. «Und ich war ehrlich gesagt total überrascht. Echt, ich glaube, alle waren das. Niemand
     redet so mit Dan.» Sie schüttelt den Kopf. «Niemand.»
    Tja, ich schon, denke ich bei mir. Zumindest mein wahres Ich.
    «Es war großartig. Mutig.»
    |14| Und das Wort gibt schließlich den Ausschlag. «Mutig.» Ich wäre so furchtbar gern mutig. Ich möchte den Feigling in mir so
     wahnsinnig gern auslöschen und zerquetschen und vernichten, dass ich Alice nicht länger widerstehen kann.
    Ich stehe auf und hänge mir meine Tasche über die Schulter. «Okay», sage ich zu meiner eigenen Verblüffung – «okay, ich komme.»

|15| 2
    A lice besteht darauf, dass wir uns gemeinsam für die Party hübsch machen. Als der große Tag gekommen ist, holt sie mich am
     frühen Nachmittag mit ihrem klapprigen alten VW ab, und wir fahren zu ihr nach Hause. Sie wechselt ständig die Spur und fährt
     viel schneller, als es einer Anfängerin mit Führerschein auf Probe erlaubt ist, und dabei erzählt sie mir, dass sie allein
     lebt, in einer Einzimmerwohnung in der Innenstadt. Das überrascht mich, es erstaunt mich sogar. Ich hätte gedacht, dass jemand
     wie Alice in einem schicken Haus in einer Vorortsiedlung bei ihren treusorgenden Eltern wohnt. Ich hätte gedacht, dass sie
     verwöhnt, umhegt, verhätschelt wird (genau wie ich früher), und die Tatsache, dass sie allein lebt, macht sie plötzlich irgendwie
     interessanter. Sie ist offenbar komplexer, als ich ihr zugetraut hätte. Alice und ich haben mehr gemeinsam, als ich dachte.
    Ich möchte ihr tausend Fragen stellen – Wo sind ihre Eltern? Wie kann sie sich eine Wohnung leisten? Hat sie je Angst? Ist
     sie einsam?   –, aber ich halte mich zurück. Ich habe selbst Geheimnisse, und ich habe gelernt, dass ich, wenn ich Fragen stelle, nur Gefahr
     laufe, selbst ausgefragt zu werden. Es ist sicherer, bei anderen nicht zu neugierig zu sein, sicherer, nichts zu fragen.
    Ihre Wohnung liegt in einem spießigen, durchschnittlich aussehenden Mietsblock. Das Treppenhaus ist dunkel und nicht
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